2009/10/25
Hier wurde Jörg Haider geoutet
Bild-Chefredakteur Kai Diekmann erklärt, warum. Ein Gespräch über Sitten und Moral von Europas größter Tageszeitung
für falter
Nach zwölf E-Mails, mehreren Telefonaten und zwei Falter-Belegexemplaren, die per Post in die deutsche Bundeshauptstadt geschickt wurden, kam Anfang September die Nachricht von Pressesprecher Tobias Fröhlich: „Kai Diekmann macht gerne mit.“ Die Rudi-Dutschke-Straße und die Redaktion der linken taz sind nur einen Steinwurf entfernt. Dort, wo noch vor 20 Jahren die Mauer durch Berlin verlief, ragt das Gebäude des Axel-Springer-Verlags und der Bild-Zeitung 19 Stockwerke in den Himmel. Besucher werden durch Metalldetektoren geschleust – „wegen der Anschläge vom 11. September“, erklärt die Empfangsdame entschuldigend. Sie führt durch ein Drehkreuz zu den Aufzügen. Im 16. Stock wartet Kai Diekmann, Chefredakteur der größten Tageszeitung Europas. Während des Gesprächs helfen Büroleiter und Pressesprecher, wenn Diekmann Details vergisst.
Falter: In Österreich gehen gerade die Wogen hoch, weil Sie in der Bild-Zeitung kurz vor dem ersten Todestag von Jörg Haider dessen angeblichen Liebhaber geoutet haben. Liegen die Anklageschriften schon auf Ihrem Schreibtisch?
Kai Diekmann: Nein. Lediglich eine einstweilige Verfügung. Die prüfen wir gerade.
Was rechtfertigte die Enthüllung zum jetzigen Zeitpunkt? Gerüchte über die angebliche Bisexualität Jörg Haiders gab es schließlich schon lange.
Diekmann: Um den Tod Jörg Haiders wie um seine letzten Stunden gab und gibt es etliche Verschwörungstheorien. Unsere Reporter waren in der Woche vor dem Jahrestag des Unfalls in Österreich. Sie wollten klären, wo Haider in den Stunden vor seinem Tod war und was genau er gemacht hat, weil diese Informationen bisher nur lückenhaft vorlagen. Das ist die ganze Geschichte.
Österreichische Medien gingen bislang auf diese Spekulationen nicht ein, weil sich Haider zeitlebens nie öffentlich abschätzig zum Thema Homo- oder Bisexualität geäußert hat. Wie legitim ist die Enthüllung also?
Diekmann: Journalisten, besonders Boulevardjournalisten müssen solche Themen aufgreifen – auch wenn wir dabei Tabus anfassen. Sonst hätten wir unseren Beruf verfehlt. Was Journalismus letztlich darf und was nicht, ist eine Frage der ständigen Diskussion in der Gesellschaft. Im Übrigen hat Haider sein Privatleben immer wieder selbst zur Schau gestellt und für politische Zwecke genutzt – zumindest den Teil, der ihm lieb war. Dann allerdings haben die Menschen ein Recht darauf, auch die andere Seite Haiders kennenzulernen.
René N., der angebliche Liebhaber Haiders, sagt, noch vor einem Jahr hätten ihm die Medien horrende Summen für das Outing geboten. Ist für sein Liebesbekenntnis Geld geflossen?
Diekmann: Wir haben für diese Geschichte nichts gezahlt.
Prominente beklagen, dass sie die Macht der Bild oft zu spüren bekommen. Nach dem Motto: „Rede mit uns, oder wir schreiben, was wir wollen.“
Diekmann: Das ist Quatsch. Was aber nicht sein kann, ist, dass sich Prominente nur dann in der Zeitung sehen wollen, wenn es ihnen gerade passt. Nehmen Sie das Beispiel Nadja Benaissa von der Band „No Angels“: Sie wurde aufgrund des Umgangs mit ihrer HIV-Infektion in einer Diskothek verhaftet. Das war Exklusivschlagzeile von Bild. Frau Benaissa und ihr Anwalt haben sich anschließend heftig dagegen gewehrt, wegen angeblicher Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte und Intimsphäre. Jetzt hat sie sich allerdings gerade in der Bild am Sonntag mit einem sehr freizügigen Foto präsentiert und über Seiten detailliert darüber geäußert, wie das mit der Verhaftung und ihrer Erkrankung genau war – inklusive aller intimen Details. Ich unterstelle natürlich überhaupt nicht, dass das etwas mit ihrem neuen Album zu tun hat, das gerade herausgekommen ist.
Und die Moderatorin Eva Hermann, die in Ihrer Zeitung als „dumme Kuh“ bezeichnet wurde?
Diekmann: Das hat Franz-Josef Wagner in seiner Kolumne „Post von Wagner“ so formuliert. Das ist die härteste Kolumne der Republik. Davon abgesehen: Wer als Prominenter in Talkshows sitzt, wie eben Eva Hermann zuvor, darf auch nicht zimperlich sein, wenn er anschließend öffentlich kritisiert wird.
Was bedeutet das Caroline-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Ihre Zeitung? Es gesteht Prominenten schließlich auch in der Öffentlichkeit das Recht zu, privat zu sein.
Diekmann: Dieses schiefe Urteil gibt Prominenten die Möglichkeit, Berichterstattung über sich steuern zu können. Damit haben wir die Situation, dass Künstler oder Politiker sich nur noch in der Presse sehen wollen, wenn sie mehr CDs verkaufen respektive Stimmen gewinnen wollen. Ich erwähnte das vorhin. Aber man muss Öffentlichkeit auch ertragen, wenn es einmal nicht so gut läuft. Sonst hat das nichts mehr mit Pressefreiheit zu tun, sondern eher mit Pressebenutzung.
Vielen Menschen wird diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung genommen. Auch Bild veröffentlichte eine frischverliebte Kampusch in der Diskothek.
Diekmann: Über die Abgrenzungen, die im Presserecht oder im Pressekodex definiert sind, wird es immer wieder Meinungsverschiedenheiten geben. Grundsätzlich dürfen wir über Opfer berichten und auch Fotos zeigen.
Wie gehen Sie mit Bild-Kritikern um?
Diekmann: Dass eine Zeitung, die uneingeschränkter Marktführer und laut und unbequem ist, schärfer beobachtet wird als jedes andere Medium, ist eine Selbstverständlichkeit. Wer so wenig zimperlich im Austeilen ist wie wir, der muss auch selber einstecken können. Aber eine Bild-Zeitung, an der man sich nicht mehr reibt, wäre nicht erfolgreich. Wir müssen polarisieren. Bei uns gibt es keine Kommentare, die „sowohl als auch“ vertreten. Wir wollen zur Auseinandersetzung zwingen.
Was reizt Sie persönlich an Bild?
Diekmann: Vor allem die unglaubliche Vielseitigkeit. Die Zeitung erlaubt alle journalistischen Darstellungsformen. Wir können gleichzeitig Illustrierte und knallige Boulevardzeitung sein. Wir können auch 500-Zeilen-Texte drucken, wenn wir glauben, dass sie relevant sind – egal, ob das Testament von Johannes Paul II. oder das erste Interview mit der frisch gewählten Kanzlerin. Wir können FAZ, Süddeutsche, Stern, Spiegel und Bild in einem sein, und das ist großartig.
Die Schlagzeilen der Bild sind legendär. Wie entstehen „Wir sind Papst“ oder „Als Kassenpatient bist du der letzte Arsch“?
Diekmann: Unser Kreativprozess ist straff organisiert. In einer Reihe von Konferenzen werden die Themen des Tages diskutiert, jedes Mal sind auch Kollegen aus den verschiedenen Teilen Deutschlands live zugeschaltet. Jede einzelne Seite wird von Hand gestaltet, und gemeinsam werden Schlagzeilen getextet.
Der Kronen Zeitung wird oft vorgeworfen, politisch zu agitieren. Politiker werden zum Kanzler hochgeschrieben. Wie sieht Ihre Mission aus?
Diekmann: Wir haben keine politische Mission. Am Tag vor der Wahl titelten wir: „So wählt Bild. Heute verraten wir’s.“ 100 Redakteure gaben in einem großen Artikel Auskunft darüber, wem sie ihre Stimmen geben würden. So gut wie alle Parteien waren vertreten.
Auch die Linke?
Diekmann: Nein, die nicht. Genauso wenig wie die ganz Rechten. Das halte ich aber nicht für eine Mission, sondern für ein Zeichen der geistigen Reife meiner Redaktion.
Sie bezeichneten Bild aber als „gedruckte Barrikade der Straße“. Was meinen Sie damit?
Diekmann: Dass wir Kampagnen machen und auch einmal laut schreien, wenn Dinge ungerecht sind. Wenn etwa ein Pleitemanager 15 Millionen Euro Abfindung kassiert (Arcandor-Chef Karl-Gerhard Eick, Anm.), dann steigt Bild tatsächlich auf die Barrikaden. Und andere Medien wie die FAZ ziehen häufig nach.
Sie waren mehrere Male beim Papst, verstehen sich gut mit der Kanzlerin, Altkanzler Helmut Kohl ist Ihr Trauzeuge und Sie sind Trauzeuge von Kohl. Wie mächtig ist der Chefredakteur der größten europäischen Tageszeitung?
Diekmann: Macht hat etwas mit „Machen“ zu tun. Das bedeutet aber häufig vor allem Verantwortung. Im Zuge der Finanzkrise etwa gab es vor einem Jahr Agenturmeldungen, nach denen sich die Zahl der Bargeldabhebungen dramatisch vervielfacht hatte. Eine Schlagzeile „Wie lange reicht das Bargeld noch?“ wäre da durchaus legitim gewesen. Wir hatten auch die passenden Geschichten – zum Beispiel, wie ein Filialleiter verzweifelt versuchte, eine Rentnerin daran zu hindern, 500.000 Euro in der Handtasche mit nachhause zu nehmen. Oder einen Mittelständler, der mit einem Lieferwagen bei der Bank vorfuhr und zehn Millionen abhob. Wenn wir das gebracht hätten, wäre das Bargeld in Deutschland wahrscheinlich wirklich knapp geworden.
In Ihrem Buch „Der große Selbstbetrug“ lassen Sie kein gutes Haar an der Generation der 68er. Rächen Sie sich damit auch an einer Generation, die die sogenannte Springer-Presse immer am lautesten kritisiert hat?
Diekmann: Das war nur ein Teilaspekt des Buches und bei weitem nicht der wichtigste. Aber man hatte in Deutschland vor dem Fall der Mauer lange den Eindruck, dass uns die Freunde in Nicaragua und El Salvador näher sind als unsere Brüder und Schwestern im Osten Deutschlands. Die Teilung Deutschlands wurde von den 68ern als gerechte Strafe für den Zweiten Weltkrieg gedeutet. Da wurden 17 Millionen Ostdeutsche einfach abgeschrieben. Und wenn ich dann in Zeitungen lese, welche 68er angeblich schon immer für die deutsche Einheit eingetreten sind, dann ist das eine verlogene Doppelmoral, die mich ankotzt. Aber mit Rache hat das nichts zu tun. Es herrscht schließlich Konsens darüber, dass auch wir eine Vergangenheit haben und in der Auseinandersetzung, vor allem rund um 68, auf beiden Seiten Fehler gemacht wurden. Wir wollten kürzlich die wichtigsten Teile der damaligen Studentenbewegung einladen, um die Ereignisse von damals aufzuarbeiten. Diese Einladung wurde leider nicht angenommen.
Sie haben mehr als eine Million Bild-Bibeln unters Volk gebracht. Gleichzeitig erscheinen in Ihrer Zeitung sogenannte „Bumskontakte“ und die „Titelmieze“ auf Seite eins. Ist das nicht scheinheilig?
Diekmann: Bei uns herrscht eine strikte Trennung zwischen Anzeigen und Redaktion. Daher hat das eine mit dem anderen auch nichts zu tun. Und zum Titelmädchen: Nacktheit ist heute in unserer Hochkultur selbstverständlich. Im Film und Theater, im Feuilleton der Süddeutschen oder in der Sixtinischen Kapelle, ebenso wie in Bild. Das zu verurteilen, halte ich wirklich für Heuchelei.
Sie sagten dem Papst, es sei Ihnen ein Anliegen, die christliche Glaubensbotschaft zu verbreiten. Warum eigentlich?
Diekmann: Weil die Regeln, die für unser gesellschaftliches Zusammenleben gelten, ihre Wurzeln in der christlichen Lehre haben. Insofern ist es für mich selbstverständlich und spannend, auch solche Themen auf die Bühne des Boulevards zu stellen. Bei den Bibelausgaben ging es uns nie darum, Geld zu verdienen. Aber schon nach drei Wochen waren 250.000 Stück der ersten Volksbibel vergriffen.
Sie sind seit 2001 Chefredakteur. Das ist gemessen an Ihren Vorgängern eine lange Zeit. Worauf führen Sie das zurück?
Diekmann: Vielleicht hat es damit zu tun, dass es Bild publizistisch und wirtschaftlich noch nie so gut ging wie heute.
Die Auflage ist zuletzt aber deutlich zurückgegangen.
Diekmann: Wir hatten im vergangenen Jahr das beste wirtschaftliche Ergebnis aller Zeiten, und es könnte durchaus sein, dass wir das in diesem Jahr wiederholen. Wir haben heute die zweithöchste Reichweite und den höchsten Marktanteil unserer Geschichte. Und schauen Sie sich die rasante Entwicklung unseres Onlineportals an: 1,5 Milliarden Page-Impressions, mehr als 100 Millionen Visits und 5,5 Millionen Unique User. Die Nutzungszeit ist länger als bei Spiegel online. Das sind unglaubliche Werte. Wenn Krise so aussieht, dann kann sie ruhig noch andauern.
In Frankreich haben Sie’s versucht, in Polen auch geschafft. Wieso gibt es keine Bild in Österreich?
Diekmann: Bei allem Respekt: Der österreichische Markt ist einfach zu klein. Ich sehe auch die Nische in Österreich nicht. Bei Ihnen gibt es schon große Boulevardzeitungen.
Sehen Sie schon das Ende der gedruckten Bild-Zeitung kommen?
Diekmann: Nein. Papier hat schließlich ungeheure Vorteile: Es strukturiert und gewichtet ein journalistisches Angebot und verlinkt nicht ins Unendliche. Wäre das Internet vor dem Papier erfunden worden, würde wahrscheinlich irgendwann jemand kommen und verkünden: Hört mal, ich hab einen ganz tollen Stoff erfunden. Der heißt Papier. Den kann man mit in die Badewanne und mit an den Strand nehmen.
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