2008/11/27

"Terror in dieser Dimension war nicht abzusehen"








































Christian Wagner ist Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Im Interview mit ZEIT ONLINE spricht er über Motive und Folgen der Anschläge




ZEIT ONLINE:
Angesichts der jüngsten Anschläge in Indien ist die Rede von einer neuen Qualität des Terrorismus. Wodurch zeichnet sich diese aus?

Christian Wagner: Die neue Qualität kommt daher, dass wir zum einen das erste Mal direkte Angriffe auf Ausländer, auf Touristen haben, zum anderen weil es vermutlich einheimische, indische Muslime sind, die diesen Terrroanschlag durchgeführt haben. Die Gruppe Deccan Mujahideen gab es zuvor noch nicht und ich vermute, sie gehört in das Umfeld der indischen Mujahedeen, die bereits in den letzten Wochen und Monaten für eine Reihe von kleineren Anschlägen in Delhi und in anderen Orten verantwortlich waren. Wenn es indische Muslime wären, dann würde das darauf hindeuten, dass sie Verbindungen haben zu internationalen Terrororganisationen. Vorbereitung, Durchführung, Logistik und Organisation sprechen dafür, dass wir es hier mit erfahrenen Terrorgruppen zu tun haben und das würde natürlich auf al-Quaida und auf islamistische Gruppen in Pakistan hindeuten.

ZEIT ONLINE: Wieso spricht man hier von der Handschrift von al-Quaida?

Wagner:
Zum einen, weil Ausländer und Touristen gezielt attackiert werden. al-Quaida hat Indien ja vor einigen Jahren den Krieg erklärt. Man will die Region Kaschmir befreien und die indische Union islamisieren. Hier aber ist es wohl vor allem der Angriff auf die westlichen Staatsbürger, der ein typisches al-Quaida-Merkmal aufweist.

ZEIT ONLINE:
Was sind das für Leute? Attentäter aus Indien selbst?

Wagner:
Das wird die große Frage sein. Die indische Regierung verweist ja auf Spuren, die außerhalb Indiens liegen. Was die Art und Weise der Durchführung anbelangt, kann das durchaus sein, aber es gibt auch die Diskussion in Indien, dass sich die Muslime in Indien selbst zunehmend radikalisiert haben und dass es vor allem unter der jüngeren Generation der Muslime hohe Unzufriedenheit gibt. Und wenn es militanten Gruppen gelingen sollte, aus diesem großen Reservoir Kämpfer zu rekrutieren, dann steht man hier wirklich vor einer neuen Qualität des Problems, einer neuen Qualität des Terrors.

ZEIT ONLINE:
Warum ausgerechnet jetzt?

Wagner: Es gibt eigentlich keinen ersichtlichen Grund. Diese Anschläge waren ja in der Vergangenheit immer wieder dazu gedacht, den Friedensprozess zwischen Indien und Pakistan zu torpedieren. Das hat nicht funktioniert. Wir haben gegenwärtig Landtagswahlen in Kaschmir. Für mich ist nicht eindeutig ersichtlich, weshalb die Anschläge ausgerechnet jetzt passiert sind.

ZEIT ONLINE:
15 Bombenanschläge in etwas mehr als fünf Jahren. War solch ein Anschlag absehbar oder gar zu verhindern?

Wagner: Es war vermutlich abzusehen, dass es in Indien eine Reihe von sozialen Konflikten gibt. Dass der Terror solch eine Dimension annimmt, war jedoch nicht abzusehen. Es gab und gibt einfach eine wachsende Unzufriedenheit bei den ärmeren Bevölkerungsgruppen, die nicht an den Früchten der Entwicklung der letzten Jahre beteiligt waren. Das stellt die indischen Sicherheitskräfte vor völlig neue Herausforderungen. Denn es gibt eine Vielzahl solcher Terrorgruppen, die nicht zu Verhandlungen bereit sind.

ZEIT ONLINE:
Wie sieht die Situation der muslimischen Minderheit in Indien aus?

Wagner:
Sie werden als gesellschaftliche Minderheit eher vernachlässigt. Das heißt sie haben weniger Zugang zu Bildung, Einkommen und Beschäftigung und somit haben sie weniger vom wirtschaftlichen Wachstum in den vergangenen Jahren profitiert.

ZEIT ONLINE: Wie funktioniert das Zusammenleben von Hindus und Moslems?

Wagner:
Es ist in den meisten Fällen ein friedliches Nebeneinander, aber es kommt im lokalen Kontext auch immer wieder zu Spannungen. Ich sehe auch nicht, dass sich die muslimische Minderheit mit den Terroristen solidarisiert. Es gibt einfach eine kleine Minderheit unter den Muslimen, die sich radikalisiert hat.

ZEIT ONLINE:
Welche Konsequenzen sehen sie für die muslimische Minderheit in Indien?

Wagner:
Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Tagen eine Reihe von Attacken auf Muslime in Bombay, aber auch in anderen Orten sehen werden. Es gibt in diesen Orten einfach die Tradition von religiösen Unruhen. So ein Anschlag schürt dann natürlich Rachegefühle seitens militanter Hindus.



ZEIT ONLINE:
Wie ist es zu bewerten, dass Pakistan sogleich die Zusammenarbeit auf geheimdienstlicher Ebene angeboten hat? Nach früheren Anschlägen stand Pakistan noch immer gleich unter Generalverdacht?

Wagner: Indien und Pakistan haben sich bereits vor einem Jahr dazu entschlossen, im Bereich des Terrorismus zusammenzuarbeiten. Das gelang bisher nur sehr schleppend. Es wäre natürlich eine völlig neue Qualität der bilateralen Beziehungen. Man wird abwarten müssen, ob die indische Regierung auf dieses Angebot eingehen wird. Beide Länder haben hier ja auch eine gemeinsame Sicherheitsbedrohung. Somit könnte es sein, dass dieser Anschlag gar den Prozess der Annäherung noch mal verstärkt, auch wenn das Ziel des Anschlags vermutlich war, diesen Prozess der Annäherung zu torpedieren.

ZEIT ONLINE: Ist also eine Beteiligung Pakistans an den Anschlägen auszuschließen?

Wagner:
Ich würde schon davon ausgehen, dass wir hier keine unmittelbare Beteiligung von pakistanischen Stellen vorliegt. Die Politik Pakistans zielt deutlicher als früher auf eine Annäherung mit Indien ab. Außerdem ist Pakistans Armee mittlerweile mit einem ähnlichen Problem an der Grenze zu Afghanistan konfrontiert. Und auch im Land selbst kommt es häufig zu terroristischen Angriffen von islamistischen Terrorgruppen. Daher glaube ich nicht, dass der Prozess der Annäherung beeinträchtigt wird. Im schlimmsten Fall wird es zu einer Pause in den Verhandlungen kommen.

ZEIT ONLINE: Muss man sich auf weitere Anschläge in nächster Zeit in Indien einstellen?

Wagner:
Ja, ich glaube wir werden noch eine Reihe von weiteren Anschlägen sehen. Nächstes Jahr sind Wahlen in Indien und das Thema "Innere Sicherheit" ist eines der beiden großen Themen neben der wirtschaftlichen Entwicklung. Und es gab ja bereits in den vergangenen Wochen immer wieder kleinere Anschläge, also ist davon auszugehen, dass wir weiterhin Terroranschläge in unterschiedlicher Form sehen werden. Vermutlich nicht in diesem Ausmaß.

ZEIT ONLINE:
Wie kann man sich Reaktionen von Hindus vorstellen. In Form von Übergriffen oder auch in Form von Anschlägen?

Wagner:
In Form von Übergriffen, eventuell auch in Form einzelner Anschläge. Man spricht in Indien mittlerweile auch von einem Hindu-Terrorismus. Hier wird man abwarten müssen, wie sich die militanten Hindus organisieren werden.

ZEIT ONLINE: Wie kann dem Problem in Indien Abhilfe geschaffen werden?

Wagner:
Wenn es indische Muslime waren, dann sind wohl die ökonomische Diskriminierung und die soziale Diskriminierung der Muslime für die Entwicklung verantwortlich. Dann müssten Entwicklungsmaßnahmen deutlich ausgeweitet werden. Das haben zwar Regierungen in der Vergangenheit immer wieder versprochen, aber wenig davon umgesetzt. Wenn es pakistanische Gruppen waren, denen es um die Torpedierung des Friedensprozesses ging, dann ist es vor allem ein Problem, das mit polizeilichen Mitteln bekämpft werden muss. Es könnte aber auch eine Mischung von beidem sein.

Die Fragen stellte Martin Gantner.


foto www.flickr.com von jusincase_ryc

2008/11/26

Die große Leere










© ZEIT ONLINE 26.11.2008




David Goecker arbeitet mit Menschen, die mit pädophilen Neigungen leben müssen. Ein Interview über Folgen und Motive des Konsums von Kinderpornografie



ZEIT ONLINE: Herr Goecker, was halten Sie von dem Vorschlag von Familienministerin Ursula von der Leyen, Websites mit kinderpornografischen Inhalten sperren zu lassen?

David Goecker: Ich begrüße den Vorschlag, weil zu hoffen ist, dass durch einen kleineren Markt auch weniger Kinder für die Herstellung pornografischen Materials sexuell missbraucht werden.


ZEIT ONLINE:
Das Problem hat durch das Internet eine neue Dynamik erhalten. Medien sprechen von einer "Generation Porno“, die Berichterstattung suggeriert, dass es auf einmal auch mehr pädophile Menschen gibt.

Goecker: In der Regel ist es so, dass die sexuelle Präferenz schon vor dem Konsum vorliegt. Auch wenn zahlreiche Betroffene glauben, erst durch den Konsum solcher Bilder pädophil geworden zu sein. In der Tat ist es aber so, dass pädosexuelle Wünsche zu dem Konsum von Kinderpornografie hinführen.


ZEIT ONLINE:
Hat der Konsum des Materials auch irgendwelche Auswirkungen auf das sexuelle Verhalten der Betroffenen?

Goecker: Wie sich der Konsum letztlich auf das Sexualverhalten auswirkt, das heißt, ob dadurch das Risiko eines realen sexuellen Übergriffs erhöht wird, darüber kann derzeit nur spekuliert werden.


ZEIT ONLINE:
Welche Rolle spielt der Konsum bei Pädophilen?

Goecker: Die meisten Pädophilen haben Erfahrungen mit kinderpornografischem Material. Es gibt einige, die schauen sich Unterhosen- oder Badehosen-Models an, andere betrachten Akt- und FKK-Bilder, wiederum andere jedoch auch sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen.


ZEIT ONLINE:
Der kanadische Psychiater Norman Doidge sagt, die Mechanismen, die beim Konsum von Pornografie greifen, seien ähnlich wie das Phänomen des Pawlow´schen Hundes. Man würde konditioniert, verlange immer mehr und entdecke unter Umständen neue sexuelle Präferenzen.

Goecker: Das berichten auch teilweise Patienten von uns. Aber wenn man nicht pädophil ist, kann man noch so viel kinderpornografisches Material anschauen und wird in der Regel immer noch Abbildungen von Erwachsenen zur sexuellen Erregungssteigerung bevorzugen. Auf die sexuelle Präferenz hat der Konsum von Kinderpornografie vermutlich keine große Auswirkung. Dadurch dürfte es nicht mehr pädophile Menschen geben als zuvor. Es gibt einige, bei denen die Pädophilie nur einen Teil der sexuellen Präferenz ausmacht, die werden durch den Konsum möglicherweise eher auf ihr Verlangen aufmerksam gemacht.


ZEIT ONLINE:
Beschreiben Sie das Dilemma, in welchem sich Pädophile befinden.

Goecker: Es ist so, dass Pädophile ja keine Möglichkeit haben, ihre Sexualität mit dem gewünschten Sexualpartner, nämlich einem Kind, auszuleben. Sie fantasieren sexuelle Beziehungen mit Kindern und schauen sich kinderpornografische Bilder bis hin zum Orgasmus an. Allerdings hinterlässt das auch immer wieder ein Gefühl der Leere. Pädophile verlieben sich ja auch in die Kinder und wünschen sich eine Beziehung auf Augenhöhe mit ihnen. Diese Bedürfnisse werden durch den Konsum von Kinderpornografie aber nicht befriedigt. Und weil dieses Begehren unerfüllt bleibt, kann das auch dazu führen, dass der Konsum von kinderpornografischem Bildmaterial zunimmt.


ZEIT ONLINE: Leiden Pädophile unter Gewissensbissen?

Goecker: Es gibt einige Pädophile, die für sich eine Grenze gezogen haben und sich nur FKK-Bilder anschauen, aber dann gibt es auch einige, die sich sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen anschauen und das Leid entweder ausblenden oder überhaupt leugnen. In einigen seltenen Fällen, wenn zusätzlich ein Sadismus vorliegt, kann das Leid der Kinder die sexuelle Erregung zusätzlich steigern.


ZEIT ONLINE: Pädophile Männer unterliegen ja oft der Vorstellung, die Kinder würden sich ebenfalls eine Beziehung zu ihnen wünschen. Wird das durch den Konsum noch weiter unterstützt?

Goecker: Wenn Pädophile sich Bilder mit sexuellen Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen anschauen, müssen sie sich dabei teilweise eingestehen, dass Kinder darunter leiden. Doch manche leugnen das auch, um sich sozusagen selbst zu schützen und den eigenen Konsum zu legitimieren.


Fragen von Martin Gantner




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Portrait

David Goecker

David Goecker ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Spezialist auf dem Gebiet der Sexualmedizin. Als solcher ist er als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Präventionsprojekt "Dunkelfeld" am Berliner Charité eingebunden und leitet in diesem Rahmen auch eine Therapiegruppe mit pädophilen Männern.

In dem nach Angaben der Klinik weltweit einmaligen Forschungsprojekt haben bisher rund 20 betroffene Männer, die sexuelle Neigungen gegenüber Kindern verspüren, eine Spezialtherapie beendet. Nach Ärzteangaben nahmen bei allen potentiellen Tätern Wahrnehmungsstörungen ab, wonach beispielsweise Kinder nach Sex verlangen.

2008/11/25

Viel Lob und ein wenig Tadel

Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 25.11.2008


Der Vorschlag, kinderpornografische Seiten zu sperren, stößt auf Zustimmung. Gelöst ist das Problem jedoch nicht. Der Kampf kann nur an vielen Fronten gewonnen werden.




Mit dem Vorschlag, Seiten mit kinderpornografischen Inhalten sperren zu wollen, rennt Familienministerin Ursula von der Leyen offene Türen ein – bei anderen Parteien, Opferschutzorganisationen, Täterpräventionsstellen und verschiedenen Experten. "Ja wir begrüßen den Vorstoß", steht zu Beginn eines jeden Gesprächs, und am Ende dann ein leises "aber", das verdeutlichen will: Es kann nur ein Teil eines umfassenden Maßnahmenpakets sein, um Kinderpornografie effektiv entgegenzutreten. Denn der Kampf gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet ist ein Kampf an vielen Fronten. Die technische Front und die Frage, wie und ob solche Webblocking-Methoden greifen, ist nur eine unter vielen.


"Wir mähen den Rasen einmal ab, drehen uns um und stellen fest: Schon wieder alles nachgewachsen", sagt Peter Vogt. Vogt leitet die Zentralstelle zur Bekämpfung gewaltdarstellender und pornographischer Schriften in Sachsen-Anhalt. Er gilt als Koryphäe im Kampf gegen Kinderpornografie. "Wir haben gerade eine einschlägige Seite im Netz beobachtet: 49.000 Klicks in nur zehn Tagen. Die Nachfrage ist enorm."


Von der Leyen zitiert eine britische Studie, wonach 80 Prozent der betroffenen Kinder unter zehn Jahre alt sind, 33 Prozent unter drei und weitere zehn Prozent sogar jünger als zwei Jahre. Allein 2007 deckte die Polizei rund 9000 Fälle des Besitzes und der Beschaffung von einschlägigem Material auf. Und nun soll die „Datenautobahn für Kinderpornografie“ (Von der Leyen) geschlossen werden.


"Ich widerspreche niemandem, der den Kampf gegen Kinderpornografie aufnimmt, aber ich werde den Teufel tun und ihnen erklären, wie ich in 60 Sekunden solch eine Websperre umgangen habe", sagt Vogt. Er ist sicher, die Anbieter werden auf diese Strategien mit neuen Strategien antworten. "Aber das Leben wird Händlern und Konsumenten schwerer gemacht. Daher ist es auch eine gute Maßnahme. Denn jeder Klick zeigt den Anbietern: Hier ist ein Markt. Wenn weniger geklickt wird, werden auch weniger Kinder missbraucht."


Die Maßnahme wird den Brand bekämpfen, löschen kann es das Feuer nicht. Ein Grund hierfür ist, dass Kinderpornografie ein Markt ist, der mittlerweile zwar Milliardenumsätze generiert, der aber primär nicht monetär angetrieben wird. Korinna Kuhnen hat das Buch Kinderpornographie und Internet geschrieben und sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt. "Man schätzt, dass rund 70 Prozent der Täter Neigungstäter sind. Sie tauschen die Bilder untereinander unentgeltlich, verbreiten und konsumieren sie." Nur rund 30 Prozent des Konsums würden kommerzielle Angebote ausmachen.


Aber dass Leute pornografische Bilder von A nach B schicken, kann nicht verhindert werden. "Da machen wir uns was vor", sagt Vogt. Der Oberstaatsanwalt wurde viel kritisiert, weil er in einem Zeitungsinterview gesagt hat: "Wir haben den Kampf bereits verloren." Vogt steht weiterhin dazu. Bilder, die über Mail oder Chat gehandelt werden, könnten nicht verhindert werden. Einzig der industrielle Zweig kann und muss bekämpft werden. Und zwar schnell, denn das Problem hat an Schärfe gewonnen.


Vorbei sind die Zeiten, als komplizierte Briefkastensysteme und verklausulierte Zeitungsannoncen die Nachfrage nach Kinderpornografie zu befriedigen suchten. Heute genügen wenige Klicks am Schreibtisch. Und geklickt wird viel. Naiin ist eine Art Internetbeschwerdestelle, eine Initiative gegen Internet-Kriminalität. 75 Prozent der Beschwerden, knapp 20.000 jährlich, zeigen Seiten mit kinderpornografischen Inhalten an, sagt Dennis Grabowski.


Dass die Kinder immer jünger und die sexuellen Handlungen in ihrer Darstellung immer drastischer würden, wie Frau Von der Leyen behauptet, kann Grabowski "in der Tendenz bestätigen. Globalstatistiken gibt es aber keine." Auch er begrüßt die Initiative, nennt sie aber gleichzeitig, eine "Bankrotterklärung an Justiz und Politik". Deutschland würde durch das Gesetz zu einer Insel, an deren Grenzen kinderpornografischen Seiten die Einreise verboten wird. Die Inhalte bleiben im Netz, sie werden bloß vor deutschen Nutzern abgeschottet. Es bedeutet ein Eingeständnis, dass Kinderpornografie nicht unterbunden, sondern bestenfalls an immer neuen Fronten immer neu bekämpft werden kann.


Grabowski, Kuhnen und Vogt fordern daher zusätzliche Maßnahmen. Der Oberstaatsanwalt wünscht sich einen Schulterschluss mit der Kreditkartenwirtschaft: "Wir haben es bei Operation Mikado gesehen: Wir kamen weder an den Server, noch an Produzenten oder Konsumenten ran." Man suchte den Schulterschluss und fand jene, die sich die Bilder auf ihren Rechner geladen hatten. Über die Angaben der Kreditkartenfirmen wurde deutlich, wer einen bestimmten Betrag, wann auf ein bestimmtes Konto überwiesen hat. Kritiker sprachen von Rasterfahndung, Vogt sagt: "Den Neugierigen kann man durch Webblocking beikommen, pädophilen Konsumenten muss der Geldhahn abgedreht werden."


Auch Kuhnen dämpft die Erfolgsaussichten. "Zu sagen, ‘wir schließen die Datenautobahn für Kinderpornografie‘, ist purer Euphemismus." Finanzielle und personelle Engpässe bei der Auswertung von gesammelten Daten müssten behoben werden. Oftmals sei eine aktive Opferidentifizierung nicht möglich, und auch im Bereich der Täterprävention mangle es an Angeboten. "Denn Täterprävention heißt immer auch Opferprävention."

2008/11/24

Und täglich grüßen SPÖ und ÖVP

Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 24.11.2008

Die Große Koalition ist neue alte Regierungsform in Österreich. Sie wird an ihrem Umgang mit dem rechten Lager gemessen werden müssen. Ein Kommentar


Nach 56 Tagen ist es so weit: Österreich hat eine neue Regierung, eine neuerliche rot-schwarze Koalition. Die einstigen Großparteien SPÖ und ÖVP haben sich am Sonntag auf Koalitionsprogramm und Ressortverteilung für die nächsten fünf Jahre geeinigt. Bundeskanzler wird der Chef der Sozialdemokratischen Partei Werner Faymann. Sein Vize, Parteichef der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), ist Josef Pröll.

Das erklärte Ziel der neuen Regierung heißt: es besser zu machen als die vorige Große Koalition unter Bundeskanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ). Eine neue Form des Regierens, „Teamgeist und gute Zusammenarbeit“ sollen Österreich in Zeiten einer internationalen Finanzkrise führen, betonte Faymann auf einer Pressekonferenz. Man müsse der Politik zurückgeben, was ihr dringend Not tut: "Die Glaubwürdigkeit bei den Wählerinnen und Wählern."

Doch eine Regierung Faymann kann nicht nur an Bankenkrediten und Konjunkturpaketen gemessen werden. Ebenso ausschlaggebend wie ein neuer Stil, ein neues Miteinander zwischen SPÖ und ÖVP, wird auch der Umgang mit den wieder erstarkten Rechtsparteien FPÖ und BZÖ sein.

Zur Erinnerung: SPÖ und ÖVP erlitten bei der Wahl im September eine historische Niederlage. Beide landeten bei weniger als 30 Prozent der Stimmen. Das gespaltene rechte Lager kam gemeinsam auf annähernd gleich viel Stimmen wie der relative Wahlsieger SPÖ.

Das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) unter der Führung von Jörg Haider überholte gar die Grüne Partei. Haider selbst, der die österreichische Innenpolitik in den vergangenen 20 Jahren geprägt hat wie kein anderer Politiker, kam vor wenigen Wochen bei einem Autounfall ums Leben. Sein politisches Vermächtnis, populistische und ausländerfeindliche Politik, ist gemessen am Wahlergebnis lebendiger als je zuvor.

Den Regierungsmitgliedern stünde es angesichts dessen nicht schlecht an, würden sie sich zu Beginn der neuen Legislaturperiode die vergangenen 20 Monate noch einmal Revue passieren lassen. Der Erfolg der Rechtsparteien war nicht alleine das Verdienst von Haider oder Heinz Christian Strache (FPÖ), er ist vor allem auch der Politik von SPÖ und ÖVP verschuldet.

Beide Parteien sahen im vergangenen Wahlkampf davon ab, sich klar und eindeutig von den Parolen von FPÖ und BZÖ zu distanzieren. Im Gegenteil ließen sie sich Inhalte und Stil von Strache und Haider diktieren. Wie das Kaninchen vor der Schlange sprangen beide auf einen populistischen Kurs mit auf.

Die SPÖ ganz unverblümt, indem sie mittels Leserbrief in der Kronen Zeitung ihren EU-Kurs aufkündigte und sich künftig bei Vertragsränderungen für Volksabstimmungen im eigenen Land aussprach. Die ÖVP wollte mit einer schärferen Asylpolitik gefallen und verwies auf "Ausländergettos" in Wien.

Das Kalkül: Man wollte das nationalistische, EU-kritische Wählerpotenzial nicht den beiden Rechtsparteien überlassen und schon gar nicht dem direkten politischen Konkurrenten. Doch dieses Kalkül ist gescheitert. Das Dritte Lager mag gespalten sein, geschwächt ist es heute indes nicht.

Doch SPÖ und ÖVP hindert die gescheiterte Strategie nicht daran, weiterzumachen wie bisher. Im Gegenteil: Auf populistische, EU-feindliche Töne wird man auch in Zukunft bei beiden Parteien stoßen können. Sie werden weiterhin versuchen, am rechten Rand zu fischen und somit Inhalte und Stil der Rechtsparteien weiter legitimieren und salonfähig machen.

Die heikle EU-Frage, die im Juli noch für das endgültige Aus der Regierung gesorgt hatte, ist nun kein Hindernisgrund für eine Neuauflage der Großen Koalition. Die Frage wurde schlicht nicht eindeutig beantwortet und auf Eis gelegt.

Und auch die ÖVP scheint nur bedingt Lehren aus den vergangenen acht Jahren gezogen zu haben. Laut Tageszeitung Standard soll eine Gruppe rund um den ehemaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel bis zuletzt versucht haben, BZÖ und FPÖ für eine neuerliche Koalition rechts der Mitte zu begeistern.

Bereits in der ersten Pressekonferenz nach der Wahl betonte Pröll, welch wichtige Rolle das Thema Sicherheit in der künftigen Regierung spielen werde, und kündigte eine „Sicherheitsoffensive“ an, damit sich die Menschen in Österreich auch in Zukunft nicht fürchten brauchen. Außerdem geht das zuletzt von der SPÖ liberal geführte Justizministerium an die Volkspartei. Verfassungsexperten sehen die Gewaltbalance im Rechtsstaat gefährdet, wenn eine Partei sowohl Innen- als auch Justizressort unter ihren Einfluss bringt. Wasser auf den Mühlen von BZÖ und FPÖ. Der politischen Glaubwürdigkeit ist damit nicht gedient.

2008/11/20

Bis in alle Ewigkeit






































Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 20.11.2008


Der Tod ist sicher, nicht aber die letzte Ruhestätte - das zeigt der Diebstahl der Leiche Friedrich Karl Flicks. Friedhof, Weltraum und Almwiese im Sicherheitsvergleich



Den Unternehmer Karl Flick plagten in den letzten Jahren seines Lebens Sorgen um seine Sicherheit und die seiner Familie. Der Milliardär hatte allen Grund dazu: 1991 wurde der Bruder seiner Frau entführt. Die Entführer verlangten fünf Millionen Euro Lösegeld. Zur Übergabe kam es nicht, die Polizei konnte die Täter ausfindig machen und den Schwager befreien. Die Entführung ging glimpflich aus.


Bei Flick hat sie dennoch tiefe Spuren hinterlassen. Fortan überließ er nichts dem Zufall. Seine Villa am Wörthersee glich einer Festung, und seine Kinder wurden von Leibwächtern zur Schule gebracht. Zu sehr fürchtete er, seine Liebsten könnten ein weiteres Mal entführt werden.


Mehr als 15 Jahre später stehen die Kinder des einstigen Milliardärs erneut unter Personenschutz. Denn zwei Jahre nach seinem Tod wurde Flick selbst Opfer einer Entführung. Zu einem Zeitpunkt, da er sich dagegen nicht mehr schützen kann. So wie ihm ging es zuvor schon Pharaonen im alten Ägypten, aber auch Persönlichkeiten wie Charlie Chaplin und dem langjährigen sogenannten König der Mailänder Finanz, Enrico Cuccia.


In letzteren beiden Fällen wurden die gestohlenen Särge gefunden. Der von Chaplin vergraben in einem Acker in der Schweiz, und jener von Cuccia wenige Tage nach der Leichenfledderei im April 2001 in einer verlassenen Sennhütte in der Nähe von Turin. In beiden Fällen hatten die Diebe Lösegeld gefordert.


Auch wenn Millionäre und Milliardäre häufiger zu ihren Lebzeiten als nach dem Tod entführt werden, stellt sich die Frage, wie man der Leichenfledderei entgehen und einer sicheren letzten Ruhestätte gewiss sein kann.


Daniel Eickhoff glaubt zu wissen, wie das geht. Eickhoff ist Trauerberater bei Bestattungen Burger, einem bundesweit tätigen Unternehmen, das sich auf exklusive Bestattungsformen spezialisiert hat. Eickhoff sitzt im bayerischen Fürth. Er sagt: "Am sichersten ist die Bestattung im Weltraum. Wenn die gesamte Asche eines Menschen dort bestattet werden soll, kostet das 500.000 Euro.“


Posthum ins All kommt man allerdings auch billiger: 12.000 Euro kostet die Mini-Urne für etwa sieben Gramm Asche mit aufgedruckter Widmung. Der Abschuss des Bestattungssatelliten, der später wieder in die Erdatmosphäre eintritt und gleich einer Sternschnuppe verglüht, inklusive. Der Bayer würde in solchen Fällen mit Bestattungsunternehmen in Houston/Texas zusammenarbeiten – würde dieser Service nachgefragt werden, was bis heute noch nicht geschehen ist. Auch die Mondbestattung für 27.000 Euro, bei der die Asche des Verstorbenen auf der Mondoberfläche platziert wird, wollte noch niemand. "Bei dieser Bestattungsart ist eine lange Wartezeit für die Urne einzuplanen“, sagt Eickhoff. Aus Kostengründen werden in Houston Fahrgemeinschaften zum Mond gebildet.


Das schweizerische Unternehmen Algordanza mit Sitz in Chur bietet eine Diamantbestattung an. Aus dem Angehörigen wird ein einkarätiger, weißer oder bläulich schimmernder Diamant gefertigt. Dieser kann geschliffen an einer Kette um den Hals oder in einer Fassung am Finger getragen werden. Oder der Tote findet seine letzte Ruhestätte einfach im Safe der Familie. Hierzu wird der Kohlenstoff, der sich im Körper des Toten befindet, extrahiert, in Reaktoren zu Grafit umgewandelt, gereinigt und zu einem Diamanten gezüchtet. Das dauert knapp zwölf Wochen.


Auch Deutsche zeigen Interesse. "Unsere Kunden, die Hinterbliebenen, sind häufig mobil und haben keinen Bezug mehr zu Friedhöfen", sagt Eickhoff. 900 Menschen haben den Service im vergangenen Jahr nachgefragt, 15 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Je nachdem, wie hochkarätig der Diamant sein soll, kostet das zwischen 4600 und 13.200 Euro. Bis zu vier Diamanten können aus einem Toten gewonnen werden. Für den zweiten und jeden weiteren Stein reduziert sich der Preis um jeweils 352 Euro.


Rechtlich war diese Bestattungsform umstritten, denn in Deutschland herrscht Friedhofszwang. Ob Sarg oder Urne, beide gehören auf den Friedhof. "So wird der Tote aber nach Schweizer Recht bestattet. Die Rückführung als Diamant ist nicht strafbar, weil der Aschenanteil sehr gering ist.“ Eickhoff ist überzeugt: "Diese Bestattungsformen sind exklusiv und sicher.“


Wer sicher sein möchte, dass seine letzte Ruhestätte auch wirklich die letzte ist, dem bleibt nur das Exil im Orbit oder in der Schweiz. Eine Ballonbestattung in Holland oder eine Almwiesenbestattung in Österreich sind weitere Möglichkeiten. "Deutschland ist eines der letzten Länder in Europa mit Friedhofszwang.“


Für Erdbestattungen kann Eickhoff jedoch keine Garantien abgeben. Urnen werden in der Regel nur in 80 Zentimeter Tiefe vergraben, Särge aus Platzmangel oftmals übereinander gestapelt. Was Bestattungen Burger abseits von Diamanten, Mond- und Universumreisen bisher nicht anbietet, sind alarmgesicherte Gruften und Gräber.


foto/www.flickr.com/peterbreuer

2008/11/19

In der Piratenhochburg





























© ZEIT ONLINE 19.11.2008 - 14:04 Uhr

17 Schiffe und 340 Crewmitglieder gelten als vermisst. Völkerrecht und Europäische Union stoßen im Umgang mit Piraten an ihre Grenzen, sagt Expertin Kerstin Petretto



ZEIT ONLINE:
Frau Petretto, Sie beschäftigen sich viel mit Schiffsentführungen. Was sagen Ihnen die Entführungen in der Vergangenheit über die gegenwärtige?

Kerstin Petretto:
Solange Lösegeld gezahlt wird, verlaufen die meisten Entführungen unblutig. Ehemalige Geiseln berichten auch, dass ihre Entführer eher pfleglich mit ihnen umgegangen sind.


ZEIT ONLINE: Wie viele Leute sind derzeit in Gefangenschaft?

Petretto:
Etwa 340 Besatzungsmitglieder auf 17 Schiffen. Manche kommen nach einigen Wochen frei, andere nach wenigen Tagen. Im Fall der Sirius Star sieht es im Moment nicht so aus, als würde militärisch eingegriffen. Franzosen und Briten sind bereits hart gegen Piraten vorgegangen.

ZEIT ONLINE: Wieso also nicht auch in diesem Fall?

Petretto: Von militärischen Aktionen wird meistens abgesehen, weil es für die Entführungsopfer und wegen der Fracht viel zu gefährlich wäre. Das gilt auch für die Sirius Star. Würde die Situation eskalieren, könnte das aufgrund der Ölladung zur Katastrophe führen.

ZEIT ONLINE:
Wie verläuft eine solche Entführung für gewöhnlich?

Petretto:
Piraten nähern sich meistens nachts auf kleinen Booten. So werden sie nicht vom Radar erfasst. An Deck gelangen sie mit Enterhaken oder Leitern. Danach überwältigen sie die Crew. Die Sirius Star ist 330 Meter lang und 60 Meter breit, aber nur 25 Leute waren an Bord. Eine effektive Verteidigung ist da kaum möglich. Da liegt meines Erachtens auch eine große Verantwortung bei den Reedereien: Die Mannschaftsstärken wurden in den letzten Jahren immer weiter herabgesetzt.

ZEIT ONLINE:
Wie viele Piraten sind an so einer Entführung beteiligt?

Petretto:
Bei großen Entführungen können es bis zu 50 Piraten sein. Die Schiffe versuchen oft, durch Beschleunigung und durch Zickzackfahren zu entkommen. Doch die Piraten sind mittlerweile so gut ausgerüstet, dass dies nichts mehr nützt. Oft verfügen sie über Panzerabwehrraketen und Granaten.

ZEIT ONLINE: Welche Schiffe werden am meisten gekapert?

Petretto:
Meistens sind es Tanker und Containerschiffe, zum Teil Schiffe mit hochexplosiven Ladungen – auf ihnen ist die Besatzung aus Sicherheitsgründen nicht bewaffnet.

ZEIT ONLINE: Solche Schiffe können ja nicht vom Erdboden verschwinden. Wie geht es also weiter?

Petretto: Meistens ist klar, wo sich die Schiffe befinden. Es gibt beispielsweise einen Hafen in Eyl, in dem die meisten entführten Schiffe lagern. Das ist sozusagen die Piratenhochburg Somalias. Es kommt nur selten vor, dass Schiffe wirklich verschwinden. Es gab solche Fälle in Asien. Die Schiffe sind verschwunden und später mit neuem Namen, neuen Papieren und neuer Lackierung wieder aufgetaucht.

ZEIT ONLINE:
Von Verhaftungen ist bei Schiffsentführungen selten die Rede.

Petretto:
Die Entführer kommen in den meisten Fällen ungeschoren davon. Das hängt mit der politischen Situation in Somalia zusammen. Es gibt keine Gerichtsbarkeit und keine Strafverfolgungsbehörden, die den Kampf gegen die Piraten aufnehmen könnten.

ZEIT ONLINE: Man kann ja bereits von einem regelrechten Wirtschaftszweig sprechen. Wie lange ist das Problem schon so massiv?

Petretto:
Letztes Jahr nahmen die Entführungen bereits um zehn Prozent zu. Richtig angezogen hat es aber erst in diesem Jahr. 2008 gab es bislang allein vor Somalia 92 Attacken und 36 Entführungen.

ZEIT ONLINE:
Stößt das Völkerrecht im Umgang mit Piraten an seine Grenzen?

Petretto:
Die völkerrechtlichen Regeln sind derzeit unzureichend. Insbesondere die strafrechtliche Verfolgung ist nicht geklärt. Vor diesem Problem steht auch die Mission der Europäischen Union, die im Dezember beginnen soll und an der sich auch Deutschland mit einem Schiff beteiligen wird. Bislang ist die Regelung die, dass jeder Staat nach seinem nationalen Recht mit Piraten umgehen kann. Eine einheitliche Lösung wäre indes wünschenswert.

ZEIT ONLINE:
Mit welchen Problemen ist Somalia konfrontiert?

Petretto:
Es gibt seit 1991 keine Regierung und keine funktionierende Küstenwache. Verschiedene Gruppierungen kämpfen um die Macht. Wirtschaft und Infrastruktur liegen danieder. Und nachdem der Golf von Aden eine der wichtigsten Schifffahrtsrouten ist, hat sich dieser regelrechte Wirtschaftszweig entwickelt. Solange die Situation an Land so prekär ist, wird es schwer, der Lage auf offener See Herr zu werden.

ZEIT ONLINE:
Was ist also zu tun?

Petretto:
An Land sind vor allem die Somalis selbst gefordert. Verhandlungsprozesse, die bereits stattfinden, müssen weiterhin unterstützt werden. Problematisch ist, dass Verhandlungen durch den Kampf gegen den Terror erschwert werden. Verschiedene Gruppierungen wie die Al Shabab werden von Gesprächen ausgeschlossen, weil sie des Terrorismus verdächtigt werden. Ohne sie wird es aber noch schwerer, eine Lösung zu finden.

ZEIT ONLINE:
Ist der Golf von Aden alternativenlos?

Petretto:
Man kann auch das Kap bei Südafrika umfahren, aber die Strecke ist etwa doppelt so lang. Das heißt: Die Kosten würden steigen, wohl auch für die Verbraucher. Ich fürchte, dass dieses Problem kurz- und mittelfristig nicht zu lösen ist. Geschützte Konvoifahrten können Abhilfe schaffen. Die müssen dann aber wirklich massiv geschützt sein.

Fragen Martin Gantner


foto auf www.flickr.com/unaone

2008/11/18

Schnäppchenjagd am Apothekenmarkt






































Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 18.11.2008


Die Drogeriekette dm will den Handel mit Medikamenten ausbauen - der vorläufige Höhepunkt eines lang währenden Kampfes. Was bedeutet das für die Patienten?



Die Kreuzung Am Speersort - Kattrepel in Hamburg-Mitte erzählt die Geschichte eines Kampfes. An dieser Kreuzung wird offenbar, mit welch harten Mitteln Apotheker und Drogeristen um die Vorherrschaft am deutschen Apothekenmarkt ringen.

Drei Apotheken und eine Drogerie im Umkreis von wenigen Metern: St. Petri-Apotheke, Apotheke zum Pressehaus, DocMorris und Schlecker. Sie alle handeln mit Medikamenten - mit rezeptpflichtigen und rezeptfreien. Alle wollen ein Stück des 37 Milliarden Euro großen Kuchens haben. So viel betrug der Jahresumsatz aller deutschen Apotheken im vergangenen Jahr. Es geht um Kunden, um Patienten und um die Frage, ob beides dasselbe ist.

Seit 2004 wird der Markt in geringen Dosen liberalisiert. Seinerzeit wurde die Preisbindung bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten aufgehoben. Der Wettbewerb unter den Apotheken sollte belebt, Medikamente für Patienten günstiger werden. Im März diesen Jahres dann der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, nach dem Versandapotheken ihre Arzneien in Drogeriemärkten wie dm, Schlecker oder Rossmann vertreiben dürfen.

Dm will nun ab Mitte 2009 in allen deutschen Filialen einen Abholservice für Medikamente einrichten. Auch Schlecker baut seinen Handel mit Medikamenten immer weiter aus. In über 11.000 Märkten gibt es Bestellshops der niederländischen Versandapotheke Vitalsana. Das Prinzip: Durch große Mengen im Einkauf soll den Kunden am Ende ein billigeres Medikament über den Tresen gereicht werden können.

DocMorris, ein deutsch-niederländisches Unternehmen, mischt ebenfalls in der Gesundheitsversorgung mit. Ähnlich dem Franchise-Prinzip vereinen sich unter der Marke über 100 selbstständige Apotheker in ganz Deutschland und bieten ihren Kunden zum Teil billigere Medikamente an als in der alt eingesessenen Apotheke zwei Häuser weiter.

Die Kreuzung in Hamburg-Mitte zeigt nun die beiden Richtungen an, in die der Apothekenmarkt gehen kann: Liberalisierung oder Festhalten am Status quo. Welche Richtung eingeschlagen wird, ist noch offen. Entschieden wird diese Frage Anfang nächsten Jahres in Luxemburg.

Dann wird sich der Europäische Gerichtshof darüber verständigen, wie liberal Deutschlands Apothekenlandschaft gestaltet sein soll. Doch was bedeutet diese Zunahme des Angebots für die Nachfrage nach Aspirin, Paracetamol und Kräutertee? Schon lange sind sich Gesundheitsökonomen einig, dass die Zahl der Arztbesuche mit der Zahl der niedergelassenen Ärzte zunimmt. Je mehr Ärzte, umso kränker das Volk. Kann Ähnliches auch bei Medikamenten vermutet werden?

Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) warnt schon lange vor solchen Liberalisierungstendenzen. Ihr Sprecher Christian Splett: "Da könnte ja jede Currybude auf die Idee kommen, eine Box aufzustellen, Rezepte zu sammeln und zwei Tage später Medikamente zu liefern." Splett weiß, dass das nicht passieren wird, "aber es geht hier um Versorgung, nicht um Konsum."

Kritiker wie Splett verweisen gerne auf die USA, wo Medikamente in Supermärkten zu kaufen sind und Aspirin in der Großpackung im Regal steht. Mit den USA ist die Situation in Deutschland jedoch nicht vergleichbar, sagt Gerd Glaeske. Glaeske ist Gesundheitsökonom an der Universität in Bremen. Er befasst sich mit Arzneimittelversorgung. Seit Jahren würden zuerst verschreibungspflichtige Medikamente in den Bereich der Selbstmedikation übergehen und für diese gilt seit 2004 die freie Preisgestaltung. "Wir können aber nicht feststellen, dass deswegen Missbrauch und Konsum von Arzneimitteln wesentlich zugenommen haben."

Tatsächlich sind die jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben für nicht verschreibungspflichtige Medikamente mit 53 Euro konstant geblieben. Und auch in Großbritannien werden Apotheken und Drogerien schon länger zusammengelegt, ohne dass hierdurch ein steigender Effekt beim Arzneimittelkonsum zu erkennen ist.

Fabian Karsch stimmt mit Glaeske in einem Punkt überein. Karsch ist Medizin- und Gesundheitssoziologe an der Universität in Augsburg. Auch er sagt, dass das größere Angebot nicht zwingend in eine steigende Nachfrage nach Medikamenten münden muss. Doch Karsch warnt vor einer zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitsmarktes. "Immer mehr Akteure drängen auf den medizinischen Markt." Diese Entwicklung, davon ist Karsch überzeugt, hat den Ärzten stark geschadet. "Wenn Ärzte immer öfter Dinge anbieten, von denen sie unmittelbar finanziell profitieren, wird dadurch das Vertrauensverhältnis erschüttert. Sie geraten in den Ruf, Gesundheitsverkäufer zu sein."

Noch ist das Vertrauen der Patienten in die Apotheker sehr hoch. In verschiedenen Umfragen schneiden sie oft besser ab als ihre Kollegen aus der Praxis. Die Frage ist, ob das in einem liberalisierten Medikamentenmarkt so bleibt.


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2008/11/12

"Sonst zahlen wir eure Rente nicht"





































Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 12.11.2008



Tausende Schüler gehen bundesweit für eine bessere Bildung auf die Straße. Die Forderungen sind zum Teil etwas diffus, aber das Engagement ist groß





Die Schüler, die an diesem Mittwoch, in vielen Städten dem Unterricht fernbleiben, haben ihre Hausaufgaben gemacht. Sie wissen, weshalb sie durch die Innenstädte ziehen, Transparente in die Höhe halten, "Bildung" skandieren. Sie fordern "Bildung für alle", "bessere Ausstattung an Schulen" und "kleinere Klassenzimmer". Von "null Bock auf Schule" ist keine Rede.


Allein in Hamburg trafen sich 6000 Schüler aus den verschiedensten Schulen, um ihrem Unmut Luft zu machen. In Berlin sprachen die Veranstalter von 10.000 Teilnehmern. In München, Stuttgart und Kiel gingen trotz der Androhung von Strafen jeweils bis zu 5000 Schüler auf die Straße. Die Schüler-Initiative "Bildungsblockaden einreißen" nannte die Gesamtzahl von 70.000 Teilnehmern in 30 Städten.


"Dass es so viele sein werden, hätte ich nicht gedacht", sagt Linda vom Streikkomitee in Hamburg. Sie steht vor dem Hauptbahnhof und blickt ein wenig ungläubig in die Menge. Von den verschiedenen Seiten strömen immer mehr Schüler auf den Bahnhofsvorplatz. Sie halten Transparente in die Höhe, stimmen Sprechchöre an: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut.“ Linda glaubt, es wären wohl noch viel mehr gekommen, hätten manche Schulleitungen nicht gegen die Demonstration mobilgemacht.


So hat etwa Bremens Schulsenatorin Renate Jürgens-Pieper (SPD) im Vorfeld darauf hingewiesen, dass Schüler zwar ein Demonstrations-, aber kein Streikrecht hätten. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat die bundesweiten Schülerproteste dahingegen begrüßt. Schüler wie Lehrer benötigten "gute Schulen und gute Lernbedingungen", sagte die GEW-Vizevorsitzende Marianne Demmer. Sie appellierte an Bildungsministerien und Schulleitungen, keine Strafen gegen die streikenden Schüler zu verhängen.


In Hessen unterstützte der Elternbund den Boykott: Das mehrgliedrige Schulsystem sei ein Grund für die Benachteiligung sozial schwacher und bildungsferner Teile der Gesellschaft, hieß es zur Begründung.


Doch nicht alle Eltern standen hinter ihren demonstrierenden Kindern. Johanna, Ebru und Mona von der Gesamtschule Lohbrügge in Hamburg etwa berichten von einem Schreiben des Elternrats, in dem vor einer Teilnahme am Streik abgeraten wurde. Sie sind dennoch gekommen. "Wir haben viel über den Streik diskutiert", sagt die 13-jährige Mona. Sie wollen eine leistbare Bildung und wieder neun statt wie nur noch acht Jahre auf dem Gymnasium. Viele berichten von starkem Stress, keiner Freizeit und viel zu großen Klassen.


Eine Schülerin klagt darüber, dass sich an ihrer Schule zwei Klassen zeitweise ein Klassenzimmer teilen müssten. Ähnliches erzählen auch Schüler der Gesamtschule im reichen Hamburger Stadtteil Blankenese. Eine Schülerin einer Gesamtschule hat für ihre Schulbücher zwar bezahlt, aber sie immer noch nicht bekommen. "So ist Bildung nicht möglich", schreit sie ins Megafon. Die Schüler grölen – auch dann, als sich eine Schülerin darüber auslässt, dass die ganze Klasse wegen ein kranken Lehrerin ein halbes Jahr keinen Mathematik-Unterricht hatte. Ersatz gab es keinen. Unverständnis bei den Schülern. Buhrufe.


Nicht ganz so friedlich wie in Hamburg war die Stimmung in Hannover. Dort durchbrachen einige Hundert Demonstranten die Bannmeile um den niedersächsischen Landtag. Steine flogen, eine Scheibe wurde eingeworfen. In Erfurt besetzten rund 100 Schüler kurzzeitig das Schulamt, um durchzusetzen, dass streikende Schüler nicht bestraft werden.


Im Vorfeld der bundesweiten Demonstration war von konservativer Seite davon die Rede, dass hinter der Aktion die Linkspartei stecke. Die jedoch weist das ebenso wie die Organisatoren von sich. Finn vom Hamburger Gymnasium Dörpsweg ist über die Unterstellung erbost. Zu glauben, 6000 Jugendliche seien wegen der "Linken" hier, sei falsch. In der Online-Community "Schüler-VZ" hätten er und andere ein Diskussionsforum eingerichtet. "Innerhalb kürzester Zeit waren über 1500 Schüler registriert, die über das Thema intensiv diskutierten."


Mit der Linkspartei haben auch Leon, Dennis, Moritz und Julius nichts am Hut. Sie sind elf und gehen erst in die sechste Klasse. Die Transparente, die sie in die Höhe halten, sind beinahe größer als sie selbst. Dennis sagt, er möchte nichts für die Schulbücher bezahlen. Dass es den Vieren ernst ist, zeigt ein Blick auf ihre Transparente. Darauf steht: "Sonst zahlen wir eure Rente nicht."





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2008/11/10

In der Rauchpause



ZEIT ONLINE 10.11.2008



Tausende von Kindern und Jugendlichen verweigern in Deutschland den Schulbesuch. Sie wollen nie mehr zur Schule und fürchten gleichzeitig eine Zukunft ohne Perspektiven

Wie richtige Problemschüler sehen Jan, Milana und Steffen* eigentlich nicht aus. Sie sitzen an diesem Morgen einer neben dem anderen in einem Klassenzimmer in Billstedt und warten auf den Beginn des Unterrichts. Vor ihnen liegen lose Blätter mit Dreisatz-Übungen. Mathematik. „Ich bin hier total unterfördert“, sagt Steffen. Steffen weiß, dass das so nicht stimmt. Er lacht.

Steffen hat ADS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, außerdem Erfahrungen mit Drogen und er kann sich nur schwer unter mehreren Jugendlichen gleichzeitig aufhalten. Der 16-Jährige redet völlig offen darüber. Seit einem Monat kommt er täglich für eineinhalb Stunden nach Billstedt in „seine“ Schule. Seine Schule heißt Rebus und ist eine von 15 regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen in Hamburg. Rebus tritt auf den Plan, wenn alles andere nicht hilft, wenn die Schule an ihre Grenzen stößt. Lehrer, Psychologen und Sozialpädagogen kümmern sich hier um Schulverweigerer. Knapp eineinhalb Stunden Unterricht täglich. Eine Dreiviertelstunde Mathe, danach Musik, dazwischen Rauchpause. Mehr geht im Moment nicht.

Steffen, Jan (13) und Milana (15) sind an einem Punkt angelangt, an dem mit Schulzwang nicht mehr viel zu machen ist. Nur in geringen Dosen zugeführt, kann Schule funktionieren. Geringe Dosis heißt wenig Stoff, wenig Mitschüler und viele Lehrer. An diesem Morgen kommen auf die drei Jugendlichen zwei Pädagogen und eine Praktikantin. „Hier im Osten Hamburgs haben wir ein großes Problem mit Arbeitslosigkeit, überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger und eine hohe Kriminalitätsrate“, sagt Thomas Juhl, Chef von Rebus in Billstedt.

Seit drei Jahren haben er und seine Kollegin Gabriele Reichert sehr viel um die Ohren. Das Jahr 2005 stellt in Hamburg eine Zäsur im Umgang mit Schulverweigerern dar. Es ist jenes Jahr, in dem das siebenjährige Mädchen Jessica tot in einer Wohnung aufgefunden wird. Verhungert, von den Eltern gefangen gehalten. Damals wurde auch Kritik an den Schulbehörden laut. „Ruhe gibt’s heute erst, wenn wir das Kind gesehen haben“, sagt Juhl. Vieles hat sich seither geändert: Fehlt ein Kind in der Schule, kommt eine regelrechte Maschinerie in Gang, ein engmaschiges Netz gegenseitiger Kontrolle wird geknüpft - noch am selben Tag. Eine Richtlinie schreibt den Schulen vor, was zu tun ist, wenn Kinder fehlen.

Das beginnt bei der täglichen Überprüfung in jeder Unterrichtsstunde, dem Versuch, die Kinder telefonisch zu erreichen, und gelingt auch das nicht, ist der Schule ein Hausbesuch zwingend vorgeschrieben. Wenn das alles nicht hilft, gibt die Schule den Fall an Rebus ab. „Wir benachrichtigen dann sofort das Jugendamt.“ Am Ende dieser Kette kann die Anordnung von Bußgeld und in einzelnen Fällen auch der Arrest des Jugendlichen stehen.

So verbüßte gerade eine 19-Jährige aus Mönchengladbach eine Woche Arrest. Die junge Frau hatte immer wieder unentschuldigt in der Berufsschule gefehlt. Deshalb hatte sie das Amtsgericht im Sommer 2007 zu 16 Arbeitsstunden oder ersatzweise 179 Euro Geldbuße verurteilt. Die damals gerade 18-Jährige leistete weder die Arbeitsstunden ab, noch zahlte sie die Geldbuße. Konsequenzen gab es vorerst nicht für sie. Allerdings hatte man sie bei den Behörden nicht vergessen: Die zuständige Jugendarrestanstalt schrieb sie zur Festnahme aus.

In Hamburg, versichert Reichert, bleibt Arrest für Jugendliche die Ausnahme. Geldstrafen gehören da schon eher zur Regel: Allein 2008 wurden in Hamburg 21.800 Euro Bußgelder erlassen und 123 Haussuchungen durchgeführt. Zu rigide? Zu viel Wind um ein Problem, das mindestens so alt ist wie die Schulpflicht selbst?

Juhl sagt nein. „Es ist ein System, das nach außen rigide auftritt, das im Inneren aber einen stark integrativen Auftrag hat.“ Schulbesuche, Gespräche mit Eltern und Schülern sowie Förderunterricht für die Schüler in Kleinstgruppen.

Ein Vergleich mit anderen Bundesländern ist nur schwer möglich. Bildung ist Ländersache und daher auch der Umgang mit jenen, die ihr den Rücken zukehren. Wie ein Flickenteppich ziehen sich die einzelnen Schulverweigerer-Projekte über die Bundesrepublik. Immer wieder gibt es neue Meldungen über Arreste, neue Lösungsansätze und gescheiterte Versuche.

Jüngst empörte sich die Öffentlichkeit in Berlin über Pläne der SPD Neukölln, welche auch den Entzug des Sorgerechts ermöglicht hätten. Oder Göttingen: Hier hatte das Verwaltungsgericht beschlossen, einer Flüchtlingsfamilie aus dem Kosovo die Aufenthaltsgenehmigung zu entziehen. Der Grund: Die Kinder schwänzten ständig die Schule. Eine Datenbank des deutschen Jugendinstituts in München zählt 57 unterschiedliche Schulverweigerer-Projekte über ganz Deutschland verteilt.

Ein Vergleich soll zeigen, welche Projekte erfolgreich sind und welche nicht. Doch was muss mit Steffen, Jan und Milana geschehen, damit man von einem Erfolg sprechen kann? „Wir haben eine ganz miserable Erfolgsquote, wenn man Erfolg daran messen würde, wie viele Jugendliche wieder zurück in eine Regelschule gehen.“ Ziel dieser jungen Leute muss es sein, die Berufsfähigkeit zu erlangen.

Juhl weiß auch, wie dies gelingen könnte. „Wenn wir diese Jugendlichen nicht marginalisieren wollen, brauchen wir Arbeits- und Ausbildungsplätze.“ Und sie brauchen vor allen Dingen eines: Zeit. Zeit, um sich an die Herausforderungen des Alltags zu gewöhnen. „Die Vielfalt an Talenten, an Begabungen und schönen Gesichtern ist immer noch groß“, sagt Reichart. „Aber was ich nicht verstehen kann, ist, dass für diese Menschen überhaupt kein Platz da ist.“ Steffen und Milana glauben, ihren Platz schon noch zu finden. Steffen möchte Schauspieler wie Brad Pitt und Milana Hotelfachfrau werden. Nur zurück in die Schule wollen sie beide nicht.

*Namen von der Redaktion geändert


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2008/11/08

US-Wahl: Zwischen Tür und Angel













Obama möchte aus den Fehlern seiner Vorgänger lernen. Die Herausforderungen sind enorm. Die Periode des Übergangs ist entscheidend für seine Regierungszeit

Noch-Präsident George W. Bush soll nicht schlecht gestaunt haben, als er 2001 erstmals seinen neuen Wohnsitz Pennsylvania Avenue 1600 betrat. Der Grund: Die Mitarbeiter seines demokratischen Vorgängers Bill Clinton hatten sämtliche "W" von den Computertastaturen des Weißen Hauses entfernt, Telefonkabel sollen aus den Wänden gerissen worden sein, nachdem man zuvor obszöne Voicemails auf den Anrufbeantwortern hinterlassen hatte.

Die Bush-Regierung sprach von einem Schaden in der Höhe von 15.000 Dollar. Clintons Leute dementierten und konterten, es handle sich bloß um den üblichen Unrat, der noch bei jedem Eigentümerwechsel im wohl berühmtesten Haus der Vereinigten Staaten angefallen sei.

Ob es dieses Mal friedlicher wird? Bush hat seinem Nachfolger Barack Obama jedenfalls bereits einen Tag nach der Wahl seine volle Unterstützung für die Amtsübergabe zugesagt und ihn ins Weiße Haus eingeladen. William Allman, Chefkurator im Weißen Haus, erklärte in einem Zeitungsinterview, dass in solchen Fällen die alte First Lady die neue First Lady auf einem Rundgang durchs Haus führen und ihr erklären würde, welche Räume, wie zu benutzen seien.

Zusätzlich zu Laura Bush soll ein 14-köpfiges Team den Obamas bei allen Fragen zu ihrem Umzug zur Verfügung stehen, gleich, ob die Fragen die Sicherheitsvorkehrungen im Weißen Haus oder banale Dinge betreffen. So gibt es genaue Vorschriften, wer wo, wann, wie, sein Auto parken darf. Dem Zufall wird in dieser Phase der sogenannten Transition nichts überlassen. Schließlich drängt die Zeit: Es ist die erste Amtsübergabe in Kriegszeiten seit über 40 Jahren. Hinzu kommen ein enormer Schuldenberg und eine drohende Rezession. Für Zahnpasta an Türklinken ist die Zeit zu knapp. Zumal das Weiße Haus 132 Zimmer, 35 Bäder und 412 Türen zählt.

Auch inhaltlich darf nichts schiefgehen: Wer die Transition verpatzt, warnt ein Experte, wem es nicht gelinge, hier die entscheidenden Weichen und den richtigen Ton zu treffen, dem misslängen auch die ersten hundert Tage seiner Präsidentschaft.

Aus diesem Grund hat sich auch Obama selbst sehr früh mit dem Tag nach der Wahl beschäftigt, zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht einmal wusste, ob er diese auch gewinnen würde. Sein Mann für diese Pläne: John Podesta. Der 49-jährige Anwalt setzt sich mit dem fünften November bereits seit dem Frühjahr auseinander. Vier Arbeitsgruppen haben ein 50 Kapitel langes Handbuch ausgearbeitet, das genau festlegt, wie die Wochen bis zum Amtseid Obamas aussehen würden. Für jene Zeit, in der aus dem President-elect am Ende ein President of the United States werden soll.

Es gilt nicht nur, erste Lösungen für eine der größten Krisen in der Geschichte des Landes auf den Weg zu bringen, es sind auch 7000 Posten und vor allem Regierungsämter zu besetzen. 70 Tage bleiben, um geschätzte 40.000 Bewerbungen durchzusehen. Bill Clinton wurde diese aufwendige Personalpolitik 1992 zu einem lästigen Problem, als sich kurz nach Amtsantritt eine seiner Rechtsberaterinnen als Steuersünderin entpuppte. 2004 wurde deshalb ein Gesetz erlassen, das die vom gewählten Präsidenten autorisierten Personen ermächtigt, bereits vor seiner Angelobung auf geheime Personendaten zuzugreifen.

Obama möchte die Fehler seiner Vorgänger auf jeden Fall vermeiden. Fehler, die Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy, Jimmy Carter oder eben Bill Clinton bereits vor ihm gemacht haben.

Roosevelt lehnte 1932 etwa das Angebot seines Vorgängers Herbert Hoover ab, gemeinsam nach Auswegen aus der Wirtschaftskrise zu suchen. Die Folge: Die wirtschaftliche Depression verschlimmerte sich. Zwanzig Jahre später wurde auch aus diesem Fehler gelernt, als Harry Truman seinen Nachfolger Dwight Eisenhower mit wertvollen Informationen versorgte.

Informationen, auf die wiederum John F. Kennedy keinen Wert zu legen schien. Als Kennedy am sechsten Dezember 1960 seinen Vorgänger im Weißen Haus besuchte, soll dieser ihm geraten haben, jegliche Neuorganisation von Strukturen zu vermeiden, solange Kennedy sich nicht eingearbeitet habe. Nach seinem Amtsantritt verwarf der junge Präsident den Rat Eisenhowers und änderte zahlreiche nationale Sicherheitsvorkehrungen. Zu bürokratisch lautete sein Urteil. Mit der Invasion der Schweinebucht konfrontiert, fehlte Kennedy ein eingespieltes, mit der Materie vertrautes Beratungsgremium.

Bill Clinton hingegen erlebte die Konsequenzen von falschen Personalentscheidungen. Er hatte sich für die Besetzung des Stabschefpostens über einen Monat Zeit gelassen, um sich dann für seinen langjährigen Freund Thomas McLarty zu entscheiden. McLarty war alles andere als unumstritten, nach zwei Jahren schied er als Stabschef wieder aus und war fortan nur noch als Berater tätig.

Obama hat den Posten des Stabschefs bereits zwei Tage nach der Wahl benannt. Rahm Emanuel diente ähnlich wie Podesta schon unter Clinton als enger Berater. "Change" ist damit, zumindest was die Bündelung von Kompetenzen in Obamas direktem Umfeld anbelangt, erst einmal nicht Gebot der Stunde.





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2008/11/04

US-Wahl: Rüstung gegen Wind






















ZEIT ONLINE 4.11.2008

Die Deutsche Bank emittierte 2007 ein Demokraten- und ein Republikaner-Zertifikat: Rüstungsindustrie gegen Umwelttechnologiesektor. Verloren haben beide.

Der Markt kennt keine Wahlsieger. Er kennt Zertifikate, die gut "performen" und welche die schlecht laufen. In Zeiten der Finanzkrise "performen" praktisch alle schlecht. Die Deutsche Bank hat vergangenen Herbst unter anderen zwei Basket-Zertifikate emittiert – ein Republikaner- und ein Demokraten-Zertifikat. In beiden wurden jeweils Aktien von Firmen gebündelt, die entweder dem Lager John McCains oder jenem von Barack Obama zugeordnet wurden. Ein Duell Gut gegen Böse – unabhängig davon, wie man politisch zu den beiden Kandidaten steht.

Denn im Republikaner-Zertifikat vereinigen sich Tabakindustrie, Rüstungs- und Ölfirmen und auf der anderen Seite, im Demokraten-Zertifikat, Bildungs-, Solar- und Umwelttechnologie-Unternehmen.

Die simple Annahme dahinter: Unter einem Präsidenten John McCain würde es Rüstungsfirmen wie Lockheed und Halliburton oder Ölgiganten wie Exxon Mobil besser gehen als unter einem Präsidenten Barack Obama. Gewinnt letzterer die Wahl, so die Annahme der Analysten, profitieren eher Firmen mit etwas unvertraut klingenden Namen wie SunPower Corp. oder First Solar Inc.

Soweit der Plan. Doch hatte im September 2007 noch kaum jemand die Ausmaße jener Finanzkrise auch nur ansatzweise erahnt, die Monate später die ganze Welt fest im Griff haben sollte. "Wenn der Markt um 30 Prozent in die Knie geht, kann man nicht erwarten, dass die Zertifikate gut performen“, sagt Holger Bosse, Analyst der Deutschen Bank.

Beide Zertifikate haben im vergangenen Jahr an Wert verloren, jenes der Demokraten mehr (gut 20 Prozent) als jenes der Republikaner (knapp 15 Prozent).

Das lag nicht zuletzt an einem entscheidenden Fehler: Die Analysten nahmen an, Präsident Obama werde ein Präsident der Häuslbauer werden und sie taten, was sie hätten vermeiden sollen - sie packten die Aktie der einst so wichtigen Hypothekenbank Fannie Mae mit ins Zertifikat der Demokraten. Jene Bank, die wie kaum eine andere als Sinnbild dieser Krise gilt und die zuletzt knapp 80 Prozent ihres Werts eingebüßt hat.

Bosse erklärt das Vorgehen bei der Auswahl der Aktien im vergangenen Jahr: "Wir haben uns das Spendenverhalten der einzelnen Branchen angesehen und geschaut, welche Politik, welche Programme die beiden Kandidaten vertreten.“

Das Center for Responsive Politics hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Spenden im US-Wahlkampf zu dokumentieren. Ein Blick ins Spendenregister macht deutlich, dass die Wahl der Analysten grundsätzlich schlüssig war: So hatten etwa Organisationen, die sich gegen Abtreibung aussprechen, gemeinsam 530.000 Dollar den Republikanern gespendet, Obama wurden nur 3000 Dollar geschenkt.

Oder Spender, die ihr Geld für liberale Waffen-Gesetze investiert sehen möchten, überwiesen ihr Geld ebenfalls getroster an John McCain denn an Barack Obama. In absoluten Zahlen: Etwas mehr als eine Million Dollar für die Republikaner und nur rund 200.000 Dollar für die Demokraten.

Öl-Giganten wie Exxon Mobile, BP oder Shell entschieden sich bei ihrem Spendenverhalten ebenfalls mehrheitlich für die Republikaner: 20 Millionen Dollar für McCain und nur sechs Millionen Dollar für Obama.

Anders das Bild bei Hedge Fonds, die sich mehrheitlich für Obama entschieden haben: Neun Millionen Dollar für das Obama-Lager stehen fünf Millionen Dollar für das Lager von McCain gegenüber.

Stark nachgefragt wurden weder Republikaner- noch Demokraten-Zertifikat. "Das sind Nischenprodukte“, sagt Bosse. Mit der politischen Gesinnung habe "diese Wahl", die Entscheidung für das ein oder andere Produkt, nichts zu tun, "dahinter steht eine ganz konkrete Erwartung“. Eine Erwartung, die für Anleger jedweden Lagers enttäuscht wurde.

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2008/11/03

In Leben investieren
















Was kann Theater den Menschen in der Krise geben? Ein Gespräch mit dem Regisseur Stephan Kimmig, der in Hamburg Ödon von Horváths Drama "Kasimir und Karoline" inszeniert

ZEIT ONLINE:
Herr Kimmig, Ödon von Horváth hat zu Beginn der dreißiger Jahre die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise in seinem Stück Kasimir und Karoline beschrieben. Was ist die Essenz des Dramas?


Stephan Kimmig: Es zeigt deutlich, in welch trostlose, einsame Depression Menschen geraten können, wenn die ökonomischen Zwänge stärker werden. Die Figuren sind zunehmend egomanisch, das Selbstwertgefühl gerät aus der Balance, und die Außenwelt löst sich ab.

ZEIT ONLINE: Lässt sich das Stück dadurch auf die Gegenwart beziehen?

Kimmig: Ja, weil die Wirtschaftskrise hier nicht an Zahlen festgemacht wird. Horváth geht es um das, was die Krise im Einzelnen hervorruft, es geht um das Aus-der-Gesellschaft-ausgeschlossen-Sein. Und letztlich ist man in so einer Situation immer allein.

ZEIT ONLINE: Von der Arbeit bzw. der Arbeitslosigkeit hängt im Stück das persönliche Schicksal der Protagonisten ab.

Kimmig: Unser Selbstwertgefühl hängt bis heute stark von unserer Arbeit ab. Den Leuten gelingt es nicht, aus diesem Kreislauf auszubrechen.

ZEIT ONLINE: Woran liegt das?

Kimmig: Jahrelang wurden wir geprägt von einer neoliberalen Vorstellung davon, wie wir zu funktionieren haben. Eine Vorstellung, die vorgab, alles sei möglich, solange man selbst in Bewegung bleibt. Hier noch ein Workshop, da noch ein Seminar. Wenn man dann noch dreimal seinen Wohnsitz wechselt, ist alles wunderbar. Das Credo war: "Wer rausfällt, hat sich nicht genug bemüht."

ZEIT ONLINE: Macht die Krise dieses Credo obsolet?

Kimmig: Noch vor ein paar Wochen galt der Staat als altmodisch, ein Instrumentarium aus den achtziger Jahren, das niemanden mehr interessiert. Der Staat roch nach Ostblock und nach Mauer. Plötzlich hat sich das geändert. Alle fordern wieder einen starken Staat, allen voran Vertreter aus der Wirtschaft. Damit werden doch Parteien wie die FDP überflüssig. Die dürfte ja auch niemand mehr wählen. Wenn Herr Westerwelle konsequent wäre, müsste er sich morgen gleich selbst abschaffen und die FDP auflösen. Das wäre ein konsequenter Schritt in der Politik.

ZEIT ONLINE: Horváth schreibt, die allgemeine und private Krise seien eng miteinander verknüpft. Sehen Sie das ähnlich?

Kimmig: Das Stück zeigt anhand der Figur der Karoline sehr gut, wie schnell eine Situation umschlagen kann. Sie will sich einfach mal einen Abend auf dem Oktoberfest amüsieren, möchte loslassen, Achterbahn fahren und ein paar Bier trinken. Doch am Ende des Stücks steht sie allein da. Sie fällt in ein tiefes Loch, aus dem sie nur mit einem falschen Leben wieder rauskommt. Ein Leben mit Schürzinger, der sie lieben wird, den sie aber nicht lieben kann. Es ist ein falsches, gebrochenes Leben.

ZEIT ONLINE: Sie haben nun Wochen an dem Stück gearbeitet. In dieser Zeit haben sich die wirtschaftlichen Ereignisse geradezu überschlagen. Hat das Ihre Arbeit belastet?

Kimmig: Es war eher eine Herausforderung. Irgendwelche Rundumschläge helfen in dieser Situation schließlich wenig. Die aktuelle Situation ist auch eine, über die sich die Menschen emotional sehr schnell einigen können. Außer ein paar Bänkern und den Westerwelles wird eine große Mehrheit sie als katastrophal empfinden.

ZEIT ONLINE: Horváth hatte einen sehr politischen Auftrag mit seinem Volkstheater. Haben Sie auch einen?

Kimmig: Ja. Ich möchte einfach zeigen, dass die äußeren Umstände Löcher aufreißen, die so einfach nicht zu schließen sind. Man kann sich durchaus vorstellen, dass sich Kasimir, nachdem der Vorhang fällt, das Leben nimmt, oder dass Karoline tablettensüchtig wird.

ZEIT ONLINE: Am Hamburger Schauspielhaus lesen Hartz-IV-Empfänger die Namen von Millionären vor, der Broadway in New York verzeichnet Besucherrekord. Hat das Theater in der Krise Hochkonjunktur?

Kimmig: Insgesamt gehen rund 50 Millionen Menschen in deutschsprachige Theater. Eine wahnsinnige Zahl. Im besten Fall können hier aktuelle Fragen auf sehr demokratische Art und Weise verhandelt werden. Insofern ist das Theater dem Oktoberfest nicht unähnlich. Jeden Abend sitzen im Theater 700 völlig verschiedene Leute und beschäftigen sich mit denselben Fragen. Und schließlich orientiert man sich in seinem Verhalten immer am Verhalten anderer. So funktioniert Menschsein.

ZEIT ONLINE:
Kann es also sein, dass das Publikum gerade jetzt nach Orientierung sucht?

Kimmig: Ja. In der Politik kann man ein unfassbares Abtauchen beobachten. Man wartet seit Wochen auf ein Zugeständnis, auf ein Zeichen der Ratlosigkeit oder Offenheit. Ich würde mir wünschen, dass eine offene Diskussion geführt wird.

ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie sich konkret?

Kimmig: Antworten auf die Fragen: Was kann Politik? Was kann Wirtschaft? Darüber muss neu verhandelt werden. Wir haben schließlich noch eine andere Krise, die nebenher läuft: Die Klimakrise fällt völlig unter den Tisch. Diese Krisen böten auch die seltene Chance, neu über unseren Gesellschaftsbegriff nachzudenken. Andernfalls sehe ich die Gefahr, dass mit einfachen politischen Wahrheiten wieder große Mehrheiten zu machen sind.

ZEIT ONLINE:
Was machen Sie jetzt mit dem eigenen Geld?

Kimmig:
Man muss in Leben investieren. Sparen ergibt ja scheinbar keinen Sinn.

Stephan Kimmigs Inszenierung von "Kasimir und Karoline" ist am Hamburger Thalia-Theater zu sehen. Premiere war am 1. November.

Das Gespräch führte Martin Gantner.


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2008/11/02

Finale

Die neue Selbstverständlichkeit








Journalisten dürfen häufig nur berichten, wenn sie Knebelverträge unterschreiben. Künstler wollen kontrollieren, was nicht mehr zu kontrollieren ist

Recherche: Martin Gantner


Johannes Bruckenberger weiß, was Stars und Sternchen mögen, oder vielmehr, was sie nicht mögen. Sie legen ihm die Wünsche schriftlich vor - in Verträgen, verklausuliert aber unmissverständlich. Bruckenberger ist stellvertretender Chefredakteur der Austria Presse Agentur (Apa). Auf seinem Schreibtisch liegen Verträge von internationalen Künstlern und deren Agenturen. Jener von Leonard Cohen etwa, der vor wenigen Wochen im Wiener Konzerthaus einen umjubelten Auftritt feierte. Darin festgehalten die Bedingungen, unter denen über das Konzert berichtet werden darf.

"Wir hätten den Text nur einmal publizieren dürfen", sagt Bruckenberger. Weiters hätte er in anderen Publikationen nicht abgedruckt werden und auch nicht im Web erscheinen dürfen. Einigermaßen bizarr, ist es doch Sinn und Zweck einer Presseagentur, Texte den eigenen Genossenschaftern, den österreichischen Medien, zur Verfügung zu stellen. "Das führt ja das Prinzip der Agentur ad absurdum." Streng genommen hätten sich die Apa-Redakteure den Konzertbericht nur gegenseitig vorlesen dürfen, denn über ein eigenes reichweitenstarkes Medium verfügt die Agentur noch nicht. Bruckenberger weigerte sich, den standardisierten Vertrag zu unterzeichnen. Die Klauseln wurden gestrichen.

Immer öfter geraten Journalisten in die Situation, in der sie rigide Akkreditierungsbestimmungen unterschreiben müssen, und Pressefotografen dürfen nur aus bestimmten Winkeln in einer gewissen Zeitspanne fotografieren. Betroffen ist vor allem das Kulturressort. Dominik Kamalzadeh ist Kulturredakteur des Standard. Auch er berichtet davon, dass solche "Paragrafenreitereien" zugenommen haben. Filmkritiker werden bei Pressevorführungen mit Nachtsichtkameras gefilmt. Aus Angst vor Filmpiraterie. Das nächste Mal bei der Pressevorführung des neuen James Bond. Eine Kollegin berichtet von Zuständen wie auf einem Flughafen: Handys und Laptops müssen abgegeben werden, ehe man durch einen Metalldetektor geschleust wird.

In Deutschland sorgte zuletzt der Film "Baader-Meinhof-Komplex" für Negativschlagzeilen. Die ersten gab es bereits, als der Film noch gar nicht in den Kinos war. Der Einladung zur Pressevorführung lag ein Vertrag bei, in dem sich Journalisten einverstanden erklären mussten, Besprechungen, Kritiken und Interviews nicht vor einem bestimmten Datum zu veröffentlichen. Solche Sperrfristen sind mittlerweile nichts Ungewöhnliches mehr.

Für Aufregung sorgten die Konsequenzen, mit denen die Agentur drohte: Für eine Zuwiderhandlung sollte eine Strafe von insgesamt 100.000 Euro fällig werden, jeweils zur Hälfte vom betroffenen Journalisten bzw. seinem Medium an die Münchner Constantin Film zu überweisen. Stefan Grissemann interviewte für das profil den Produzenten des Films, Uli Edel. Edel wollte nach Autorisierung des Interviews drei seiner Antworten gestrichen wissen. Es ging dabei um die Frage, wer in den Reihen der RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer umgebracht hatte. Im Vorfeld des Films hatte Edel verkündet, er kenne den Namen des Täters. Grissemann hatte die Antworten auf Band und veröffentlichte sie. Sie erwiesen sich jedoch nur als längst bekannte Aussagen eines ehemaligen RAF-Mitglieds.

Bei solchen Auseinandersetzungen geht es jedes Mal aufs Neue um dieselbe heikle Frage: Wo fängt Pressefreiheit an und wo hört Vertragsfreiheit auf? Oft werden Verträge oder Akkreditierungsbestimmungen erst kurz vor der jeweiligen Veranstaltung vorgelegt, sodass es zeitlich nicht mehr möglich ist, gegen die einzelnen Bestimmungen rechtlich vorzugehen. Veranstalter verweisen auf das Recht der Vertragsfreiheit und auf das Hausrecht. Konzertarenen werden zu Wohnzimmern erklärt. Heinz Wittmann ist Rechtskonsulent des Verbands Österreichischer Zeitungen (VÖZ). Er sagt: "Bei Privatpersonen kann man dem rechtlich nicht beikommen." Sein Kollege Franz C. Bauer, Journalistengewerkschafter, sieht weniger den Rechtsstaat als vielmehr die Journalisten selbst gefordert: "Mein Vertrauen in den Rechtsstaat ist, was die Ausgestaltung der Pressefreiheit anbelangt, nicht groß. Die müssen wir uns selbst erkämpfen." Konkret: Den Medien bleibt in solchen Fällen allein die Möglichkeit des Boykotts und die Hoffnung, dass sich Kollegen anderer Zeitungen solidarisch erklären.

Ein besonders anschauliches Beispiel bot vor zwei Jahren die Tour von Robbie Williams, die auch in Wien Station machte. Das Album "Intensive Care" durften Journalisten in Deutschland nur per T-Mobile-Handy-Abspielfunktion vorab hören. Beim Konzert selbst war kein deutscher Fotograf erlaubt, ein Kollege aus Großbritannien wurde eingeflogen. Und um für die After-Show-Party zugelassen zu werden, mussten sich die Journalisten dazu verpflichten, den Handyanbieter im Artikel zu erwähnen. Die Deutsche Presse-Agentur (DPA) und Associated Press (AP) verzichteten völlig auf die Konzertberichterstattung. Die Telecom kündigte danach an, die Verträge mit der externen PR-Agentur aufzulösen.

Dabei sind solch rigide Verträge auch in der PR-Branche selbst nicht unumstritten. Ulrich Nies ist Präsident der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG). Über die Verträge sagt er: "Das bringt nur Frustrationen." Er würde seinen Kollegen schon lange abraten, solche Klauseln aufzusetzen. "Der Grundsatz, Control your message' ist in Zeiten von Blogs und Social Media bis zu einem gewissen Grad obsolet geworden." In der Tat stellt sich die Frage, weshalb Fotojournalisten das Konzert nach dem zweiten Lied verlassen müssen, während normale Konzertbesucher mit ihren Handys weiter aufnehmen und fotografieren. "Es ist der Versuch, die neuen Medien nach den Regeln der alten zu behandeln." Der Versuch, zu kontrollieren, was nicht mehr zu kontrollieren ist.

Kamalzadeh sieht noch einen weiteren Grund für diese Entwicklung. Medien würden von Agenturen zusehends als Medienpartner gesehen, nicht mehr als kritisches Korrektiv. "Diese Auffassung von Journalismus ist völlig selbstverständlich geworden."


bild www.falter.at

2008/11/01

Die Lebenslüge Österreichs

Das deutsch-österreichische Kabarettduo Stermann und Grissemann tourt durch Deutschland. Ein Gespräch über Reich-Ranicki, österreichische Lebenslügen und Jörg Haider

ZEIT ONLINE: Herr Stermann, Sie treten in Ihrem aktuellen Programm als Fernsehkoch auf. Was gibt es zu essen?

Dirk Stermann: Vegetarisches: Nusspüree mit Dill. Aber weil´s billiger ist und unsere Agentur sparen möchte, ist es in Wahrheit kein Dill, sondern Kaninchenfutter. Das wird klein geschnitten. Dazu gibt’s Fertigpüree und eine gehobelte Nuss.

ZEIT ONLINE: Der Titel Ihres Kabarettprogramms lautet "Die deutsche Kochschau oder wie uns das Fernsehen zu Nazis machte“. Wie wurden Stermann und Grissemann zu Nazis?

Stermann: Diese Neonazis haben wir erfunden, weil die Köche in den TV-Shows alle wahnsinnig cool sind: Ziegenbärte und Hemd aus der Hose. Für eine Radiosendung hab ich dann eine Kochschule besucht und festgestellt: Da herrscht ein anderes Regime. Wie in einer Kaserne: ein alter Mann mit Bart, der nur rumgeschrien hat. Deswegen wollen wir wieder Zucht und Ordnung in den Küchen.

ZEIT ONLINE:
Schauen Sie privat auch gerne Kochshows?

Stermann: Sehr gerne sogar. Ich kann mir ausschließlich Informationen merken, die mit Fußball oder TV-Rezepten im Zusammenhang stehen. Nach jeder Kochshow koch ich die Sachen auch gleich nach.

ZEIT ONLINE: Sie haben eine erfolgreiche TV-Sendung in Österreich und machen Programm auf Premiere. In Deutschland wird gerade über die Qualität des Fernsehens diskutiert. Wie sehen Sie das?

Stermann: Ich bin da einer Meinung mit Marcel Reich-Ranicki, sehe ihn aber als Teil des Problems. Es gab auch nur ein paar wenige Folgen vom Literarischen Quartett, die wirklich gut waren. Ich glaube, der Tod der Medien ist das Privatfernsehen und das Privatradio. Früher lief zum Beispiel ein Russisch-Kurs im österreichischen Fernsehen (ORF). Der läuft heute eben nicht mehr und schon gar nicht auf Sat1. Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen aussehen wie die Privaten, sonst schalten die Leute nicht mehr ein und deshalb ist für die Russisch-Lehrerin kein Platz mehr. Die einzige Hoffnung ist, dass durch die Finanzkrise die Leute kein Geld mehr für einen Fernseher haben und dann nicht mehr wissen, wie scheiße Fernsehen einmal war.

ZEIT ONLINE:
Sie sind Deutscher und leben seit 20 Jahren in Österreich. Wie erklären sie ihren Freunden den Ausgang der letzten Wahlen in Österreich?

Stermann: Man kann Österreich niemandem erklären. Das kann keiner verstehen. Mit dem Tod Jörg Haiders ist es ja auch wieder so eine Sache. Im Grunde ist das mit der Fernsehkritik Ranickis vergleichbar: Ranicki hat die Fernsehleute total beschimpft, geht von der Bühne und es gibt Standing Ovations. Mit Haider war das genau das Gleiche: Er kritisierte Österreich als eine "ideologische Missgeburt“ und bekommt ein Staatsbegräbnis. Das ist grotesk. Alles Tote ist immer gut in Österreich. Das ist widerspruchslos. Und da Hitler auch gestorben ist, ist er mit seinem Tod auch gut geworden. Der Tod ist eben aus österreichischer Sicht unheimlich geil.

ZEIT ONLINE:
In einem Interview sagten Sie, dass die Reden von Jörg Haider wie rechtes Kabarett funktionieren würden. Wie war das gemeint?

Stermann: Die Reden waren kabarettistisch und auf Pointe geschrieben. Kurze Ansagen wie in der Comedy und immer auf Kosten anderer. Wie Mario Barth eben. Auch wenn der nicht rechts im klassischen Sinne ist, arbeitet er doch mit ganz alten Klischees. Haider machte das im Grunde auch. Er bediente sich verschiedener Stereotypen. Ich glaube aber, wenn wir über andere lachen, dann müssen wir uns über uns selber mindestens genauso lustig machen können.

ZEIT ONLINE: In Österreich betonten Experten nach der Wahl: "Das Volk hat nicht rechts gewählt. Das sind Protest- und keine Rechtswähler.“

Stermann: Das gehört zu den Dingen, die man nicht erklären kann. Das ist die Lebenslüge Österreichs. Das Problem aber ist: Die wissen alle, wen sie gewählt haben. Die wählen diese Parteien nicht nur aus Protest. Aus Protest könnten Sie auch die Christenpartei wählen. Aber sie wählen die total ausländerfeindlichen Parteien, was auf Plakaten und in den Reden überprüfbar ist und das seit Jahrzehnten. Man weiß das, also ist man Rechts- und nicht Protestwähler. Das soll man den Menschen auch sagen. Sie dürfen ja rechts wählen, aber das sollte ihnen bewusst sein.

ZEIT ONLINE:
Kann man heute eher Witze über den Nationalsozialismus machen als noch vor wenigen Jahren?

Stermann: Es bleibt natürlich eine Gratwanderung. Aber ich finde, über den Nationalsozialismus lachen zu können, hat einen befreienden und bewusstseins- bildenden Charakter, mehr als die immer gleiche Betroffenheit, die zwar auch notwendig ist, die sich aber auch entwickeln können muss.

ZEIT ONLINE:
Wie unterscheiden sich deutscher und österreichischer Humor voneinander?

Stermann: Der Humor ist in Österreich brutaler als in Deutschland. In Deutschland sind die Leute viel schneller von etwas geschockt. Wir sehen dann immer ratlose Gesichter im Publikum.

ZEIT ONLINE:
Bei euch verhält es sich wie bei Harald Schmidt: Man verzeiht es euch, wenn ihr mal über einen längeren Zeitraum nicht witzig seid.

Stermann: Unser Motto lautet: Akzeptanz durch Penetranz. Wenn man lange da ist, ist das so wie Regen oder Matsch. Man ist da.

ZEIT ONLINE:
Ihr seid seit 20 Jahren ein Duo. Wer braucht wen mehr in eurer Beziehung?

Stermann: Ich brauche ihn, weil er genialer ist als ich, und er braucht mich, weil ich organisierter bin als er. Was uns aber wirklich verbindet, ist der Umstand, dass wir beide eine Mutter aus der ehemaligen DDR haben. Das merkt man.

Interview: Martin Gantner


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Dirk Stermann

Geboren: 7. Dezember 1965 in Duisburg, lebt seit 1987 in Wien. Er arbeitet als Radiomoderator (FM4, Radio Eins), Kabarettist und Autor. Seit 1988 ist er für den ORF tätig. Als die deutsche Hälfte des Duos Stermann & Grissemann tritt er seit 1990 auf. Stermann ist verheiratet und hat eine Tochter.


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Die Medien und die Herde








Über die Inflation des Krisenbegriffs und den Einfluss von Schlagzeilen auf Aktienkurse. Ein Gespräch mit Medienwissenschaftler Bertram Scheufele

ZEIT ONLINE:
Herr Scheufele, Sie haben sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich Wirtschaftsberichterstattung auf Aktienkurse auswirken kann. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?


Bertram Scheufele: Im Kern reflektiert die Berichterstattung das Marktgeschehen. Das Gegenteil ist nur sehr selten der Fall.

ZEIT ONLINE: Gibt es also keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Berichterstattung und Kursentwicklung?

Scheufele: Investoren, die tatsächlich große Anteile an Unternehmen halten, beziehen ihre Informationen aus sehr spezifischen Medien. Sie nutzen Massenmedien kaum als Informationsgrundlage.

ZEIT ONLINE: Wie sieht die Situation bei Kleinanlegern aus?

Scheufele: Bei Aktien, die stark im Streubesitz, also im Besitz vieler Kleinanleger sind, kann ein gewisser Herdentrieb vorkommen. Die T-Aktie wäre so ein Beispiel. Im Falle der VW-Aktien, von denen nur rund sechs Prozent im Streubesitz sind, gibt es aber keinen großen Zusammenhang. Das heißt aber nicht, dass Medien keine Rolle spielen. Im Gegenteil: Professionellen Investoren dienen die Medien als eine Art Seismograph.

ZEIT ONLINE:
Was bedeutet das?

Scheufele: Anhand der Massenmedien versuchen Investoren, das Verhalten von Kleinanlegern zu antizipieren, einen etwaigen Herdentrieb vorwegzunehmen und für die eigene Strategie fruchtbar zu machen. Nach dem Motto: "Ich glaube, dass Medien wenn schon nicht auf mich, dann doch auf andere wirken. Daher versuche ich, mit der vermuteten Medienwirkung zu spielen." Das Problem ist nur: Die Sache ist so komplex, so viele Faktoren spielen eine Rolle, dass die Wirkung einzelner Faktoren sehr schwer nachweisbar ist.

ZEIT ONLINE:
Wir stecken in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Wie empfinden Sie den bisherigen Umgang der Medien mit der Krise?

Scheufele: Grundsätzlich als sehr verantwortungsbewusst. Auffällig war in der Vergangenheit, also vor Ausbrechen der Krise, dass die Wirtschaftsberichterstattung meist positiv verlief. Das unterscheidet sie deutlich von der Politikberichterstattung, die meist einen kritischeren Zugang wählt. Interessant ist dies vor allen Dingen, weil dieses Muster der Wirtschaftsberichterstattung in der Krise teilweise kippt.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Scheufele: Was die Kritik an Managern anbelangt, zeigt sich jetzt ein Muster, das wir aus der Politikberichterstattung schon lange kennen. Also eine starke Personalisierung des Problems und eine Suche nach den Verantwortlichen. Aber auch hier bleibt die Berichterstattung im Rahmen. Gefährlich wäre es, wenn panikartig berichtet würde, wenn also Tipps für Finanzverhalten gegeben würden oder Ähnliches mehr.

ZEIT ONLINE: Was haben Sie gedacht, als Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt hat, sämtliche Spareinlagen würden staatlich garantiert? Hätte diese Erklärung nicht auch völlig falsch verstanden werden und das Gegenteil bewirken können?

Scheufele: Das war auch mein erster Gedanke. Fakt ist aber, dass die Auswirkungen solcher Entscheidungen im Vorfeld einfach sehr schwer abzuschätzen sind. Die Tragweiten all dieser politischen Entscheidungen sind noch nicht fassbar. Ich möchte in dieser Situation jedenfalls nicht in der Haut von Frau Merkel oder Herren Steinbrück stecken.

ZEIT ONLINE:
Medien schreiben andauernd von Krisen: Klima, Terrorismus und jetzt die Wirtschaftskrise. Wird der Krisenbegriff inflationär gebraucht?

Scheufele: Es gibt in der Tat eine Tendenz seit den siebziger Jahren hin zu negativerer Berichterstattung. Viele Wissenschaftler sehen hier einen direkten Zusammenhang mit der zunehmenden Politikverdrossenheit und der zunehmenden Zahl der Protestwähler in westlichen Demokratien. In wirtschaftlichen Fragen, also auch jetzt in der aktuellen Finanzkrise, kann eine übertriebene Krisenberichterstattung zu Verunsicherung in der Bevölkerung führen. Denn das Thema ist sehr komplex. Die Funktion der Medien, komplizierte Inhalte, wie beispielsweise Leerverkäufe, verständlich zu erklären, ist nun wichtiger denn je.

ZEIT ONLINE: Ist das Publikum bereits immun gegen die vielen Krisen?

Scheufele: Man könnte es vermuten. Diskutiert wird auch die Frage, ob diese zunehmende Negativberichterstattung Grund für ein sich änderndes Wahlverhalten ist: für den stärkeren Zulauf zu Parteien, die am Rande oder außerhalb des demokratischen Spektrums agieren. Doch wirklich nachweisen lässt sich solch eine These nur schwer.

ZEIT ONLINE: Welche Frage würden Sie im Zusammenhang mit der Krise gerne erforschen?

Scheufele: Mich würde ein Vergleich zwischen der Berichterstattung in Deutschland und den USA interessieren. Meine Vermutung ist, dass die Berichterstattung in den USA eine andere ist, weil dort der Umgang mit privaten Schulden und Krediten großzügiger ist als in Deutschland. Die persönliche Betroffenheit in der Bevölkerung dürfte viel größer sein als hier. Die Menschen sind in den USA deutlich stärker verschuldet, eine Panik des Mittelstands ist in den USA daher wahrscheinlicher. Unabhängig davon, ob die Leute Aktien besitzen oder nicht.

ZEIT ONLINE: Hat die gegenwärtige Finanzkrise für die Bevölkerung einen anderen Charakter als 9/11 oder die Polkappenerwärmung?

Scheufele: Viele haben direkt am Fernseher gesehen, wie das zweite Flugzeug in das World Trade Center gekracht ist. Auf der anderen Seite ist es schwierig, steigende oder fallende Kurse, Leerverkäufe oder Kaufoptionsscheine darzustellen. Das Typische für diese Krise ist, dass es keine Bilder dazu gibt. Und dann greifen Journalisten auf Köpfe zurück – Stichwort personalisierte Berichterstattung. Und schmelzende Polkappen lassen sich ebenfalls besser darstellen als der fallende Dax.

Fragen Martin Gantner

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Bertram Thiemo Scheufele

Scheufele hat die Rolle der Medien am Aktienmarkt untersucht. Es geht um den Zusammenhang zwischen Aktienberichterstattung und steigenden bzw. fallenden Aktienkursen und Handelsvolumina börsennotierter deutscher Unternehmen in den Jahren 2000 und 2005. Scheufele lehrt empirische Methoden in der Kommunikationswissenschaft an der Universität in Jena.


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