2009/09/29

Wo die Augen der Genossen glühen





Die Voest will nicht mehr politisch sein. Was die SPÖ von der ehemals verstaatlichten Industrie lernen kann

für Falter


Die Strapazen des Tages sind Hans-Karl Schaller deutlich anzusehen. Er steht an diesem Wahl´sSonntag inmitten verzweifelter SPÖ-Funktionäre im alten Linzer Rathaus. Gemeinsam ringen sie um Erklärungen. Sie spekulieren über eine noch ungewisse Zukunft, die für die Sozialdemokratische Partei immer mehr in der Vergangenheit zu liegen scheint. Die SPÖ durchlebt gerade eine ihrer schwersten Krisen nach 1945. Schaller weiß das.

Eine solche Niederlage schien dort, wo er herkommt, bis zuletzt undenkbar. Schaller ist Voestler – seit 26 Jahren. Bei den Betriebsratswahlen im Vorjahr erreichte seine Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG) noch astronomische Ergebnisse. Der ÖVP nahe stehende Arbeitnehmer spielten keine Rolle. Die Freiheitlichen (FA) bekamen nur zwei Mandate. Der Rest gehört den Roten.

Auch bei den Arbeiterkammerwahlen Anfang des Jahres konnten SP-Bastionen bei Voest oder Magna trotz Kurzarbeit und Krise gehalten werden. Seit Sonntag sind diese Erfolge aus roter Sicht jedoch deutlich weniger wert.„Was wir jetzt dringend benötigen? Eine Politik der glühenden Augen, eine Politik aus einem Guss“, sagt Schaller. Er redet lieber über Bildungs- oder Integrationspolitik als über die Voest. Er hat sich hochgearbeitet, vom einfachen Arbeiter aus der Instandhaltung zum politischen Funktionär – er war zuerst Vertrauensmann, später Betriebsrats-, schließlich Zentral- und Konzernbetriebsratsvorsitzender.

Seit Sonntag sitzt er auch im Landtag. In Wien verhandelt er Kollektivverträge, in der Voest Sozialpläne und immer dann, wenn es Probleme in anderen europäischen Standorten gibt, reist Schaller an. Die letzte Schweißnaht hat er vor 17 Jahren gezogen.

Viele Voestler dürften bei dieser Wahl der FPÖ oder auch der ÖVP ihre Stimme gegeben haben. Um das behaupten zu können, brauche er keine Wählerstromanalyse, sagt Schaller. In gewisser Weise haben also die 10.000 Beschäftigten der Voest die Wahl erneut entschieden. Wie schon bei den Wahlen vor sechs Jahren, als die SPÖ dank schwarz-blauer Privatisierungspläne noch knapp hinter der ÖVP landete. SP-Chef Erich Haider warnte damals vor dem „Ausverkauf der Voest“ an die „Russen“.

Nur wenig ist in Österreich so emotional besetzt wie der einstige Staatsbetrieb, glaubt Dieter Stiefel vom Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. „Drei Dinge haben das Selbstbild Österreichs nach 1945 geprägt: Neutralität, Sozialpartnerschaft und die verstaatlichte Industrie – mit ihr die Voest. Das war das neue Österreich.“ Die Voest habe lange als Nachweis für erfolgreiche, sozialistische Wirtschaftspolitik gegolten. Doch dann kamen die Misserfolge: jene der verstaatlichten Betriebe in den 80ern und die Stahlkrisen in den 90ern.

Heute ist vieles anders. Politiker haben seit Jahresbeginn Hausverbot bei „ihrer“ Voest. Dort, wo sich einst rote Parteichefs mit Helmen vor Hochöfen ablichten ließen, dürfen heute keine Wahlveranstaltungen mehr stattfinden. Man wolle nicht wieder Spielball der Politik sein, heißt es aus der Konzernzentrale.

Die Politik ist also draußen und die Voest seit 2005 vollständig privatisiert; 13 Prozent der Aktien gehören den Arbeitern. „Oft glaubst du, du bist an der Börse“, sagt Manfred Pühringer. Immer öfter würden Mitarbeiter in Arbeitspausen Aktienkurse im Intranet verfolgen. Pühringer ist einer von zwei freiheitlichen Betriebsräten. Der Wahlausgang hat ihn nicht überrascht.

In der Voest gelänge der SPÖ noch, was ihr abseits des fünf Quadratkilometer großen Betriebsgeländes auf Bundesebene schon lange nicht mehr gelingt. „Sie sind direkt bei den Arbeitern an der Basis.“ Er verweist auf Schaller, der unzählige Ämter innehabe, aber keine Zeit mehr für die Arbeiter im Betrieb finden könne.

„Unsinn“, sagt Schaller. Er ist letztlich aber ähnlicher Meinung wie Pühringer: „Immer vor Ort, immer präsent und nahe bei den Sorgen der Arbeiter – das ist der Grund für den Erfolg der FSG in der Voest.“ Und vielleicht einer der Gründe für rote Niederlagen in Bund- und Ländern.


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2009/09/23

Die Masse braucht Qualität






Der ORF sollte wenig Quote machen dürfen, sagt Wolfgang R. Langenbucher. Die Parlamentsenquete zum ORF ist vorbei, doch die eigentliche Arbeit steht noch bevor. Der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang R. Langenbucher über Visionen fürs Fernsehen und seinen Appell an die Politik.


Falter: Die Zukunft des ORF liegt wieder einmal in den Händen des österreichischen Nationalrats. Ist sie dort gut aufgehoben?

Wolfgang R. Langenbucher: Das wage ich zu bezweifeln. Aber ich glaube, dass jetzt für die Problematik des ORF in einer Weise Öffentlichkeit hergestellt wurde, die es der Politik nicht mehr erlaubt, so zynisch und machtorientiert mit dem Sender umzugehen, wie dies sonst möglich gewesen wäre.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass sich die Politik zu sehr mit Details beschäftigt und auf eine medienpolitische Vision vergisst?

Langenbucher: Es könnte natürlich sein, dass nur die von der Europäischen Kommission geforderten Punkte in die Novellierung des ORF-Gesetzes aufgenommen werden. Dabei wäre eine Vision dringend nötig. Es hat sich ja gezeigt, dass die Lernfähigkeit des ORF-Managements in Bezug auf die eigene Situation sehr stark unterentwickelt ist. Denn es ist klar, dass sich die öffentlich-rechtlichen Sender in ganz Europa in einer gnadenlosen Konkurrenzsituation befinden. Sender wie der ORF benötigen eine völlig neue Form der Legitimation. Diese kann nicht aus einem Quotenvergleich mit den Privaten geschöpft werden. Das ist der Fehler, den das Management der Öffentlich-Rechtlichen in ganz Europa über Jahrzehnte begangen hat. Das mag noch einige Jahre gut funktionieren, doch schon bald könnten dem ORF nicht nur Marktanteile, sondern auch die gesellschaftliche Legitimation abhanden kommen.

Der ORF sollte also das Privileg haben, wenig Quote machen zu müssen?

Langenbucher: Genau. In seiner eigentlichen Funktion muss er an anderen Zielgrößen gemessen werden.

Wie könnte die Vision also aussehen?

Langenbucher: Wir benötigen öffentlich-rechtliche Anstalten heute dringender denn je als Infrastruktur politischer Öffentlichkeit und kultureller Produktivität. So wie der Staat für Energie- oder Wasserversorgung sorgt, ist auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine notwendige Infrastruktur.

Wo sehen Sie die Parallelen zwischen Staatsoper, Burgtheater und ORF?

Langenbucher: Ohne eine Form der marktunabhängigen Finanzierung könnten bestimmte journalistische und medienkulturelle Produkte nicht weiter bestehen. Es gebe auch kein Burgtheater, wenn wir es nicht mit Steuern finanzieren würden – ganz unabhängig davon, ob jeder Steuerzahler auch ins Burgtheater geht oder nicht. Darum halte ich die Argumentation für brandgefährlich, dass Gebühren nur dann gerechtfertigt sein sollen, wenn ich auch Zuseher des Programms bin. Viel mehr bin ich Bürger, der unabhängig von der Nutzung ein Interesse daran haben muss, dass die Gesellschaft über eine gewisse kulturelle Ausstattung verfügt.

Sie wollen ein Ö1-Radio fürs Fernsehen?

Langenbucher: Ja, warum nicht?

Weil vielleicht ein Großteil der Bevölkerung, diesen Sender noch nie gehört hat.

Langenbucher: Dass Ö1 ein erfolgreiches, am Gemeinwohl orientiertes und kulturell sensibles Programm ist, steht aber außer Frage.

Würde der öffentliche Diskurs somit nicht zu einer elitären Veranstaltung?

Langenbucher: Nein. Erstens ist Fernsehen ein Massenmedium und Ö1 nicht elitär. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sämtliche Qualitätszeitungen Deutschlands gemeinsam eine Auflage, die nur halb so groß war wie jene der Süddeutschen Zeitung heute. Das heißt, wir bewegen uns bereits in einem Markt, in welchem Qualität auch ein Massenpublikum erreicht. Die Masse braucht Qualität.

Muss man sich dann nicht von der Vorstellung verabschieden, dass der ORF Öffentlichkeit noch in demselben Ausmaß herstellen kann wie noch vor einigen Jahren?

Langenbucher: Das hängt davon ab, ob man glaubt, dass eine gesellschaftliche Agora nur dann gegeben ist, wenn 100 Prozent der Gesellschaft an diesem Diskurs beteiligt sind. Aber in der Geschichte war es nie so, dass die gesamte Gesellschaft einen solchen Diskurs geführt hat. Zunächst ist es immer nur die geistige Elite eines Landes, die Teil dieses Diskurses ist.

Die Europäische Union fordert vom ORF mehr finanzielle Transparenz, um privaten Anbietern den Rücken zu stärken. Wie sehen Sie diese Forderung?

Langenbucher: Das Zentrale dabei ist, dass die EU nun einsieht, dass öffentlicher Rundfunk existieren muss und dass er in den unterschiedlichen Ländern auch unterschiedlich gestaltet werden kann.

War dies nicht immer so deutlich?

Langenbucher: Nein. Der öffentliche Rundfunk war in den letzten Jahren durch nichts mehr gefährdet als durch die EU. Erst das Amsterdamer Protokoll 1997 brachte ein Bekenntnis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der Irrtum bestand darin, dass man Rundfunk für ein Wirtschafts- und kein Kulturgut hielt. Wenn es nach der EU gegangen wäre, hätte das das Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bedeutet.

Zurück zum Nationalrat: Was müsste im neuen ORF-Gesetz stehen, das Ende des Jahres beschlossen werden soll?

Langenbucher: Es bedarf einer Fortschreibung und Modernisierung des Programmauftrags und strengerer Vorgaben für das Management. Außerdem müssen die Aufsichtsorgane kontrollfähig sein. Darüber hinaus muss man sich der Frage stellen, in welchen Bereichen der Markt versagt, um dort ein starkes Profil zu entwickeln.

Ist es nicht eine Illusion zu glauben, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk frei von parteipolitischem Einfluss stattfinden könnte?

Langenbucher: Jein. Politik schafft den Rundfunk zwar durch Gesetze. Aber es gibt ja so etwas wie demokratische Scham, wo auch Politiker vielleicht bereit sind, ihre unmittelbaren Interessen hintanzustellen und nicht nur an ihren Machteinfluss zu denken.

Sie appellieren also an die Vernunft in der Politik?

Langenbucher: Ja, an ihre kulturelle Sensibilität, ihre Einsicht und ihre Loyalität mit einer Gesellschaft, die demokratische Ansprüche hat.

Zur Person

Wolfgang R. Langenbucher ist einer der bedeutendsten Kommunikationswissenschaftler im deutschen Sprachraum. Bis Ende des Jahres 2006 war der gebürtige Deutsche Vorstand des Instituts für Publizistik in Wien. Langenbucher ist Sprecher der Initiative „Rettet den ORF“



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2009/09/16

Hier regiert der Hausverschtand







Das Vorzeigebundesland Vorarlberg ist in der österreichischen Realität angekommen. Ausländerhass und Arbeitslosigkeit nehmen zu


mit Julia Ortner für Falter


Es ist stickig heiß an diesem Montagabend im Hohenemser Pfarrhaus. Nach einer halben Stunde steht die Dame in der hinteren Reihe auf, um ein Fenster zu öffnen. Schwitzende Sitznachbarn danken es mit einem Nicken. Vorne steht Landeshauptmann Herbert Sausgruber am Rednerpult. Er spricht vom „Hausverstand“ und vom „erfolgreichen Vorarlberger Weg“, der nach der Wahl am 20. September fortgesetzt werden müsse.

Sausgruber hat sich so sehr in Fahrt geredet, wie es dem 63-jährigen ÖVP-Politiker eben möglich ist: Der „Hausverstand“ spricht langsam, in breitem alemannischem Dialekt, um Sachlichkeit bemüht. Anderswo werden mit solchen Reden Wahlen verloren, in Vorarlberg bescheren sie der ÖVP seit 1945 mit einer Ausnahme immer die absolute Mehrheit. Sausgruber streift an diesem Abend sämtliche Themen, meidet aber konsequent zwei Worte: Wirtschaftskrise und den Namen des Koalitionspartners, Dieter Egger. Denn beide, die Krise und der FPÖ-Politiker, rütteln am Selbstbild Vorarlbergs als prosperierendes und anständiges Bundesland.

Vor drei Wochen hätte niemand für möglich gehalten, dass ausgerechnet Hohenems die Landtagswahl entscheiden würde. Doch Egger hat mit seiner Aussage vom „Exiljuden aus Amerika“ die Karten neu gemischt. Gemeint war damit der Leiter des jüdischen Museums in Hohenems, Hanno Loewy, der es gewagt hatte, die fremdenfeindlichen Plakate der FPÖ zu kritisieren. Sausgruber hat daraufhin angekündigt, die Koalition mit den Blauen nicht mehr fortsetzen zu wollen – nach 35 Jahren.

Trotz freiheitlicher Regierungsbeteiligung war Vorarlberg immer ein Einwanderungsland. Die Zuwandererquote ist die zweithöchste nach der in Wien. Jeder Fünfte kommt aus einer Migrantenfamilie. Adnan Dincer ist einer von ihnen. Der Unternehmensberater lenkt seinen Mercedes durch den zähen Abendverkehr in der Bregenzer Innenstadt. Es ist der Fastenmonat Ramadan. In wenigen Minuten geht die Sonne unter, und Dincer darf wieder essen, trinken und, was viel wichtiger ist, eine Zigarette rauchen. „Die Reaktion Sausgrubers kommt um Jahre zu spät“, sagt er. Die Freiheitlichen in Vorarlberg waren nie jener liberale Ableger der Bundes-FPÖ, als der sie immer dargestellt wurden. Dincer ist mit fünf Jahren nach Vorarlberg gekommen. Einst war er Klassensprecher, heute sitzt er im Vorstand der Arbeiterkammer. Mit der eigenen Migrantenliste wurde er bei den AK-Wahlen Dritter – vor den Freiheitlichen und den Grünen.

Nun ist seine Partei Teil des Wahlbündnisses „Die Gsiberger“. Es ist eine schillernde Runde, die sich da zusammengefunden hat: Schwulenbewegung, Migranten und eine Truppe, die schon lange für die Legalisierung weicher Drogen kämpft. Sollte einer von ihnen den Sprung in den Landtag schaffen, muss er die Interessen aller vertreten. „Das könnte heikel werden“, gibt auch Dincer zu. Doch die Großparteien sollten erkennen, dass Migranten auch eine attraktive Wählerklientel sind.

Der „Vorarlberger Weg“, den Sausgruber am Rednerpult so eindringlich bemüht, ist eine Mischung aus liberaler Wirtschafts-, konservativer Familien- und grüner Energiepolitik. Vorarlberg ist bekannt für das Monopol des Vorarlberger Medienhauses, für die Bregenzer Festspiele, Passivhäuser und die Tatsache, das einzige Bundesland zu sein, das über kein Bordell verfügt – zumindest kein offiziell genehmigtes.

Das 700 Kilometer entfernte Wien ist für Vorarlberger vor allem ein „Kürzel für zentralistische Bürokratie, das uns gelegentlich beim Arbeiten stört“, sagt Sausgruber. Den Hohenemsern gefallen die Spitzen gegen das rote Wien. Der sonst so sanfte Landeshauptmann bekommt rasch „Temperatur“, wie er es nennt. Die heilige Kuh Föderalismus ist unantastbar. Denn die Legende besagt: Vorarlberg wäre nicht so schön und wirtschaftlich erfolgreich, hätte die ÖVP nicht jahrzehntelang den „eigenen Kurs“ verfolgt. Es ist das einzige Bundesland, das in der Landesverfassung als „selbständiger Staat“ beschrieben wird.

Der schwarze Absolutismus unterscheidet sich grundlegend von jenem im ebenfalls ÖVP-regierten Niederösterreich. Beherrscht dort Erwin Pröll das Land im Stil eines polternden Feudalherrn, regieren die alemannischen Landesfürsten von jeher mit leicht chauvinistischem Pragmatismus. Das untertänige Verhalten gegenüber Politikern scheint den Vorarlbergern wesensfremd. Diese Mentalität ist auch historisches Erbe der freien Bauern und Gewerbetreibenden. Am Sonntag könnte nun die absolute Mehrheit allerdings fallen – was nicht nur Sausgrubers Rücktritt bedeuten würde, sondern auch die erste Wahlniederlage für Bundesparteichef Josef Pröll in Wien. Damit wäre auch der fragile Frieden im schwarzen Haus in Gefahr.

Drei Jahreszahlen gehören in Vorarlberg zum Gemeingut eines jeden Schulkindes: 1919 wollten 80 Prozent der Bevölkerung den Anschluss an die Schweiz. 1964 schlugen die Vorarlberger bei der Fußacher-Schiffstaufe den damaligen Verkehrsminister Otto Probst in die Flucht, weil dieser ein neues Schiff auf den Namen des Sozialdemokraten „Karl Renner“ taufen lassen wollte und nicht – wie von Bevölkerung und Vorarlberger Nachrichten vorgesehen – auf den Namen „Vorarlberg“. Und im Jahr 1979 forderte eine Bürgerinitiative mehr Selbstständigkeit mit dem Slogan „Vorarlberg ist bahnbrechend“. Auch damals spielte das Medienhaus eine zentrale Rolle. Die einflussreichen VN prägten seit jeher die Meinungslandschaft im Westen. Ihre Kampagnenleitung spielte auch bei der Mobilisierung gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf eine wichtige Rolle – 90 Prozent der Vorarlberger stimmten gegen das Kraftwerk.

Doch Kampagnenjournalismus sei seine Sache nicht, beteuert Eugen Russ. „Die Schiffstaufe ist schon lange her.“ Der mächtige Verleger sitzt in einem nüchtern eingerichteten Büro in Schwarzach. „Es wurde einiges an Porzellan zerschlagen.“ Russ spricht von den Parolen der FPÖ, „ich fürchte, dass sie durchaus auch auf fruchtbaren Boden fallen werden“.

Russ hat es geschafft, die Kronen Zeitung in Vorarlberg zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen. Beinahe alles, was die Vorarlberger heute über Vorarlberg wissen, erfahren sie aus Produkten des Medienhauses. Einzig der ORF kann daneben bestehen. „Auch mir wäre der hohe Marktanteil wahrscheinlich suspekt“, sagt Russ. „Aber wir sind kein agitierendes oder missionierendes Medium.“

Auch in den USA sind 1497 von 1500 Tageszeitungen so wie die VN Monopole in ihrem jeweiligen Markt. „Schiffstaufe“ und „Pro Vorarlberg“ mögen der Vergangenheit angehören, die Regionalpolitiker wollen es sich mit Russ dennoch nicht verscherzen. „Wir werden vom Medienhaus absolut fair behandelt“, beteuert SPÖ-Chef Michael Ritsch. Er steht inmitten von Traktoren, überdimensional großen Badewannen und einem Stand der Mohrenbrauerei.

Gerade ist die Dornbirner Messe eröffnet worden. Allerdings nicht vom roten Bundeskanzler Werner Faymann, sondern vom schwarzen Landeshauptmann . Schon vor Monaten hatte die Messeleitung den Wunsch des Kanzlers abgelehnt, die Eröffnungsrede halten zu dürfen. „So was geht nur in Vorarlberg“, sagt Ritsch. Am Ende durfte der Kanzler drei Minuten lang Begrüßungsworte an die Besucher richten.

„Als ich Stadtrat in Bregenz wurde“, erzählt der SPÖ-Politiker, „hat die gute Gesellschaft plötzlich das Geschäft meiner Eltern gemieden.“ Jahrelang hätte die Landesregierung in dem Bastelbedarfsgeschäft den Christbaumschmuck für das Landhaus eingekauft. „Das war dann vorbei.“

Die ÖVP ist allgegenwärtig in dem Land westlich vom Arlberg: 88 von 96 Bürgermeistern stammen aus ihren Reihen. Die Region des Bregenzerwalds stellt mit 24 Gemeinden gleich viel Wahlberechtigte wie die Landeshauptstadt Bregenz. Alle werden von schwarzen Bürgermeistern geführt. In keiner einzigen dieser Gemeinden gibt es eine SPÖ-Ortsgruppe. Das Rote Kreuz ist ebenso schwarz wie die Arbeiterkammer. 20.000 schwarzen Parteimitgliedern stehen knapp 2000 rote Funktionäre gegenüber.

„Oppositionspolitik empfindet die ÖVP als lästiges Problem, einen Misstrauensantrag als Majestätsbeleidigung“, sagt Grünen-Chef Johannes Rauch. Der Grüne möchte in die Regierung. „100 Jahre Opposition sind genug. Es ist Zeit, was zu riskieren.“ Sausgruber würde von den wahren Problemen des Landes ablenken. Denn das Ländle kämpft mit der Krise wie die anderen Bundesländer auch. Die Arbeitslosigkeit ist im Vergleich zum Vorjahr um 45,5 Prozent auf 11.000 Arbeitslose gestiegen.

Vorzeige-Vorarlberger wie Hermann Kaufmann sehen seit langem ein ambivalentes Land. „Eigentlich müsste Vorarlberg erzkonservativ und rückschrittlich sein. Eine Partei und eine Zeitung dominieren alles“, sagt der Architekt aus dem Bregenzerwald. „Es ist eine schizophrene Situation, die zufällig auf die positive Seite gekippt ist, aber auch jederzeit auf die negative Seite kippen kann.“ Die Wahlen am Sonntag dürften zeigen, dass das Ländle inzwischen ein Bundesland ist wie die anderen acht auch. Ein Land, in dem der Verlust der absoluten Mehrheit wahrscheinlicher und fremdenfeindliche Politik der Marke Strache-FPÖ alltäglicher zu werden droht.

Vielleicht hat das auch der Landeshauptmann erkannt. Am Ende seiner Hohenemser Ansprache fleht er: „Wir müssen reden, reden, reden. Wenn 20.000 Funktionäre anfangen zu reden, geht ein Ruck durchs Land. Dann kann es sein, dass das Ergebnis noch schöner ist als beim letzten Mal.“ Oder weniger schlecht als befürchtet. F

Zum Thema

Landtagswahlen

waren in Vorarlberg bisher vor allem Festspiele für die ÖVP. Mit einer Ausnahme errangen die Schwarzen seit 1945 immer die absolute Mehrheit. Dennoch nahmen sie stets einen oder mehrere Partner mit in die Regierung. Bis 1974 waren das die Sozialdemokraten und die FPÖ-Vorgängerpartei VDU. Ab ´74 dann nur noch die VDU bzw. später die FPÖ. Das Land zählt 370.000 Einwohner und somit knapp vier Mal so viel Menschen wie im Wiener Bezirk Leopoldstadt wohnen. Jüngste Umfragen prophezeien den Freiheitlichen einen Erdrutschsieg und den Verlust der absoluten Mehrheit für die ÖVP.


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2009/09/09

Sag mir, wo du wohnst …







...und ich sag dir, wann du stirbst. Im 15. Bezirk sterben die Menschen viereinhalb Jahre früher als im ersten. Was verrät das über Wien?

für Falter

Ernst Hruška lässt sich in seinen Sessel zurückfallen und zündet sich eine Zigarette an. Der letzte Patient des heutigen Tages hat seine Praxis im 15. Wiener Gemeindebezirk gerade verlassen. Hruška ist erschöpft. „In diesem Sommer ist die Hölle los. Genauso wie in einem Winterquartal.“ Mit der Schweinegrippe hat das aber nichts zu tun, beeilt sich Hruška zu betonen, „die hab ich hier noch nie gesehen“. Er lacht.

Es ist ein Tag wie jeder andere auch, und Hruška ist Arzt in Wien wie viele andere Ärzte auch. Mit einem Unterschied: Seine Patienten sterben im Durchschnitt viereinhalb Jahre früher als die Patienten von Monika Fuchs. Auch sie ist Medizinerin. Allerdings nicht in Rudolfsheim, sondern im ersten Bezirk. Dreieinhalb Kilometer Luftlinie oder vier Stationen mit der U-Bahn trennen beide Praxen. Die Patienten der beiden Ärzte trennt vor allen Dingen eines: viereinhalb Jahre Lebenserwartung.

Denn die Bewohner Rudolfsheims werden im Durchschnitt nur 77,3 Jahre alt, während ihre Nachbarn im ersten Bezirk ein Durchschnittsalter von 81,8 Jahren erreichen. Bei Männern ist die Differenz noch größer als bei Frauen. „Vor einigen Jahren war dieser Abstand noch geringer“, sagt der Gesundheitsjournalist Martin Rümmele. Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Feiertag hat er das Buch „Zukunft Gesundheit“ in Wien präsentiert. Basierend auf einem Bericht von 2003 haben sie die Lebenserwartung für 2009 berechnet. „Die Schere zwischen Arm und Reich – auch was Gesundheitszustand und Lebenserwartung betrifft – geht immer weiter auf. Auch in Wien“, sagt Rümmele.

Die beiden Praxen, jene von Hruška im 15. und jene von Fuchs im ersten Bezirk, legen somit den Blick frei auf eine Stadt, in der Armut und Wohlstand Tür an Tür beziehungsweise Bezirk an Bezirk zu finden sind. Es sind zwei unterschiedliche Spiegel ein und derselben Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der sich Armut auch in einem früheren Tod niederschlägt.

Hruška ist angesichts der Zahlen zur Lebenserwartung überrascht. Doch je länger er über die Sache nachdenkt, umso plausibler scheint ihm der viereinhalb Jahre große Unterschied. Der praktische Arzt behandelt vor allem Migranten, Arbeitslose, Sozial- und Notstandshilfeempfänger. „Kaum einer hat hier mehr als 1000 Euro monatlich“, sagt er. Zu ihm kommen auch die Bewohner eines Flüchtlingsheims der Caritas, das sich ein paar Straßen weiter befindet. Die Praxis gleicht einem mittleren Kreiskrankenhaus. Der Arzt führt sämtliche Labortests selbst durch, damit seine Patienten nicht von A nach B rennen müssen. Viele sind arbeitslos und sprechen kaum Deutsch. Jeder zusätzliche Gang auf die Behörde oder zu anderen Ärzten wird so zur Qual.

Völlig anders das Bild in der Praxis von Monika Fuchs. Das Wartezimmer ist für zwei Personen gerade groß genug. Auf einem Beistelltisch liegen Diners Club Magazin, Madonna, Diva, Petra und Anti-Aging-News. Zu Fuchs kommen vor allem Patienten aus der oberen Einkommensschicht. Menschen, die zumindest so viel verdienen, dass sie sich eine private Krankenversicherung leisten können. „Es sind Universitätsprofessoren und Leute aus dem mittleren Managementbereich“, erzählt die Ärztin. Gehen bei Hruška pro Tag 150 Patienten ein und aus, sind es bei Fuchs „manchmal nur acht, höchstens aber 20“. Durch eine Schiebetür gelangt man in den eigentlichen Behandlungsbereich. Die Ärztin bietet „Good Aging“-Angebote für Menschen an, „die ihre Gesundheit bewusst in die eigene Hand nehmen wollen“. Eine Botoxbehandlung ist ebenso erhältlich wie Peelings oder Mittel gegen Haarausfall. „Meine Patienten nehmen sich bewusst Zeit für ihre Gesundheit. Dazu braucht es natürlich ein gewisses Maß an Bildung und Wohlstand“, sagt Fuchs und räumt ein: „Wenn ich täglich ums Überleben kämpfen muss, hab ich für so was keine Zeit.“

Anita Rieder kennt diese sozialen Unterschiede sehr genau. An diesem Dienstag sitzt die Sozialmedizinerin hinter einem großen Besprechungstisch an ihrem Institut und zeichnet einen riesigen Bogen durch die Luft. „Eine Gesellschaft ist ungeheuer dynamisch und komplex“, sagt sie, „Menschen wandern zu, und sie ziehen wieder weg. Das soziale Gefüge ändert sich laufend. Das alles hat einen Einfluss auf unsere Gesundheit.“ Seit Jahren sucht sie nach Antworten auf die Frage, wieso die Bewohner des einen Bezirks früher sterben als die eines anderen. Für die Stadt Wien hat sie dazu schon zahlreiche Studien verfasst und Bewusstseinskampagnen entworfen. „Einkommen und Bildung haben eine sehr starke Auswirkung auf die Lebenserwartung. Vor allem aber ist Bildung die beste Prävention gegen Krankheit.“ So beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männern mit Universitäts- und jenen mit Pflichtschulabschluss laut Rieder ganze sechs Jahre.

Eine Studie des Gesundheitsministeriums von 2008 hat zudem gezeigt, dass die Häufigkeit chronischer Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck mit steigendem Bildungsniveau abnimmt. „Akademiker suchen ihren Arzt viermal häufiger auf als Männer mit Pflichtschulabschluss“, sagt Rümmele. Laut Gesundheitsbefragung der Statistik Austria gehen 28 Prozent der wohlhabenderen Männer zur Vorsorgeuntersuchung. Von Armut bedrohte Männer gehen viel seltener (14 Prozent). Sie kommen meistens dann, wenn es schon zu spät ist. „Bei ihnen hat der Arztbesuch sehr oft etwas mit der letztendlichen Todesursache zu tun“, sagt Rieder trocken.

Von dieser Problematik sind Arbeitslose, Frauen und Migranten am stärksten betroffen. „Rund zwei Drittel aller von manifester Armut bedrohten Menschen in Österreich sind Frauen“, sagt Rümmele. Vor allem Alleinerzieherinnen können nur arbeiten gehen, wenn die Kinderbetreuung sinnvoll geregelt und auch leistbar ist. Roland Verwiebe vom Institut für Soziologie glaubt, dass die Wahrscheinlichkeit zu verarmen für Nichtösterreicher in Wien doppelt so groß ist wie für Wiener. Oft verrichten sie auch schwere körperliche Arbeit. Das kann auch der Mediziner Hruška bestätigen: „Die meisten, die einen Job haben, arbeiten auf dem Bau. Mit dem Ergebnis, dass die Männer mit 55 Jahren völlig kaputt sind. Ich habe 60-jährige Gleisarbeiter in meiner Praxis“, sagt er. Krankschreiben wolle sich aber keiner lassen – aus Angst, der Arbeitsplatz könnte verlorengehen. „Früher habe ich an einem Montag 40 Krankenstände ausgestellt. Heute muss ich die Leute dazu zwingen, zuhause zu bleiben.“

Dass Armut krankmacht, wird an einem anderen Ort Wiens besonders deutlich. Wer wissen möchte, mit welchen Problemen Bewohner des 15. Bezirks tagtäglich zu kämpfen haben, sollte mit Claudia Jahn-Reinwald und Ingrid Klammer sprechen. Sie sind Sozialarbeiterinnen und arbeiten im Nachbarschaftszentrum der Diakonie am Kardinal-Rauscher-Platz. Die meisten Menschen, die hierherkommen, leben unter der derzeitigen Armutsgrenze von 912 Euro im Monat. Auf klassische Arbeitszeiten muss hier wenig Rücksicht genommen werden. Dienstagvormittag findet eine Wanderung auf die Sophienalpe statt. Jeden zweiten und vierten Donnerstag im Monat treffen sich die Selbsthilfegruppen der Lymphödembetroffenen, und die Adipositasselbsthilfegruppe kommt jeden letzten Donnerstag im Monat zusammen. Bludtdruckmessungen werden ebenso angeboten wie heiteres Gedächtnistraining und Gymnastik. „Die Zähne vieler, die hierherkommen, sind in sehr schlechtem Zustand“, sagt Klammer. „Für viele wird das Taggeld in Spitälern oder die Rezeptgebühr zur echten Herausforderung“, ergänzt ihre Kollegin.

Früher seien die Menschen vor allem in der Zeit um Weihnachten gekommen, „heute kommen sie durchgehend“. Den gesundheitlichen Sorgen gehen dabei meistens finanzielle Nöte voraus. Das Nachbarschaftszentrum versucht mit Gutscheinen, Schulsachen und Lebensmitteln zu helfen. „Täglich stehen Leute mit Briefen von Inkassobüros da. Strom- und Gasrechnungen können nicht bezahlt werden.“ Viele Klienten würden auf kleinstem Raum wohnen.

Das Klo am Gang, die Wohnung feucht. „Immer öfter kommen Kinder mit Asthma zu uns“, sagt Klammer. Wer im Winter kein Geld für die Heizung, hat im Frühling kein Geld für die Miete, im Sommer kein Geld für den Urlaub und im Herbst kein Geld für die Schulsachen der Kleinen. „Arme Menschen können sich die grundlegendsten Dinge wie Miete, Essen oder Heizen heute schon kaum mehr leisten“, berichtet auch die Caritas. Ein Drittel der Menschen, die sich hilfesuchend an deren Sozialberatungsstellen wenden, hat nach Abzug der Fixkosten fürs Wohnen weniger als vier Euro täglich zur Verfügung.

Das Problem der sozialen Ungleichheit und somit auch der gesundheitlichen Ungleichheit ist keinesfalls auf den ersten und den 15. Bezirk Wiens beschränkt. Es handelt sich um ein globales Phänomen. Jüngste Zahlen aus den USA zeigen noch viel gravierendere Unterschiede. Zwischen den reichsten und den ärmsten Teilen der Bevölkerung liegen bei Männern 15,4 und bei Frauen 12,8 Jahre in der Lebenserwartung. Eine Studie des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie hat ergeben: Wer weniger als 1500 Euro im Monat verdient, lebt etwa zehn Jahre kürzer als jemand mit einem Monatseinkommen von mehr als 4500 Euro. Rümmele und Feiertag zitieren in ihrem Buch auch das Beispiel der schottischen Großstadt Glasgow, in der knappe 13 Kilometer über fast drei Jahrzehnte Lebenserwartung entscheiden. Ein Kind aus dem Problemstadtteil Calton hat im Schnitt 28 Jahre weniger lang zu leben als ein Altersgenosse aus dem nahen Pendlerort Lenzie.

Der Sozialexperte Martin Schenk kritisiert die heimische Gesundheitspolitik. „Die Weltgesundheitsorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, jenes Erkrankungsrisiko, das von sozioökonomischen Bedingungen bestimmt wird, bis 2020 um 25 Prozent zu verringern.“

In acht europäischen Staaten sind bereits größere Programme zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit angelaufen. „Österreich ist nicht dabei“, sagt Schenk. „Im Gesundheitsbericht des Ministeriums kommen sozioökonomische Analysen und Strategien nicht vor.“ Mit der Missbrauchsdebatte um die vielzitierte „soziale Hängematte“ werde bewusst Stimmung gegen die Ärmsten gemacht, warnt die Caritas.

Ernst Hruškas Praxis im 15. Bezirk. Beim Ausdruck „soziale Hängematte“ zieht der Praktiker die Augenbrauen hoch, er schüttelt den Kopf und schweigt. Dann sagt er: „Wir sind eines der reichsten Länder der Erde und bringen es nicht zustande, die Leute über die Armutsgrenze zu heben. Auch das ist eine Form von Armut.“

Mitarbeit: Lukas Plank


foto flickr.com von vulkantanz

2009/09/08

"Kulturpessimismus ist nicht angesagt"




Der Kapitalismus hat versucht, durch die Religion eingeübte Verhaltensmuster zu beerben, doch es macht noch einen Unterschied, ob man in die Kirche oder in ein Kaufhaus geht.

für Standard/Album


der Standard: Herr Baecker, Sie gelten als der David Beckham unter Deutschlands Soziologen. Wieso?

Baecker: Keine Ahnung. Ich müsste spekulieren. Als Popstar sehe ich mich jedenfalls nicht.

der Standard : Sie haben in Anlehnung an Walter Benjamin den Sammelband "Kapitalismus als Religion" herausgegeben. Erleben wir angesichts der Krise eine zweite Aufklärung?

Baecker: Nein. Wir stecken nach wie vor in der ersten. Die Finanzkrise ist ein gutes Beispiel für die Schnelligkeit, mit der Medien in der Lage sind, ein erstaunlich differenziertes Bild der Krise zu zeichnen. Es ist keine zweite Aufklärung, sondern das Funktionieren des öffentlichen Diskurses.

der Standard : Man könnte auch sagen, Journalisten haben versäumt, vor Gefahren zu warnen.

Baecker: Das ist richtig. Die Massenmedien sind schnell in der Analyse, um den Preis des schlechten Gedächtnisses für Probleme, die über einen konkreten Moment hinausgehen. Ich bin mir sicher, dass sich in Archiven Artikel finden, in denen auf Risiken hingewiesen wurden. Der Begriff des systemischen Risikos ist ja nicht neu.

der Standard : Kann nicht insofern von einer Aufklärung gesprochen werden, als dass der Kapitalismus nicht mehr als alternativlos und schicksalhaft gilt?

Baecker: Wir sehen doch gerade, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Wir korrigieren einzig unsere Kenntnis des Zusammenspiels von Markt und Staat. Wir sehen, dass der Staat nicht nur Rahmengeber für die Wirtschaft, sondern auch Konsument, Arbeitgeber, Kreditnehmer und Kreditgeber ist, der sowohl für Störungen als auch für Korrekturen mitverantwortlich gemacht werden kann.

der Standard : Peter Sloterdijk hat gerade ein Buch mit dem programmatischen Titel "Du musst dein Leben ändern" geschrieben. Werden wir angesichts der Krise gewissenhafter Müll trennen und nur noch ethische Anlageformen wählen?

Baecker: Ich sehe eher das Zerplatzen gewisser Wachstums-, Fortschritts- und Sicherheitsillusionen. Das wird Auswirkungen auf den Einzelnen haben. Mag sein, dass dies zu einem steigenden Interesse an Alternativen führen wird: Geldanlagen, Berufsausbildungen, Familienplanung. Man wird etwas beunruhigter in die Welt hinausschauen, wird aber feststellen, dass mit Alternativen auch die Entscheidungsfindung komplexer wird. Daher werden sich wieder Selbstverständlichkeitserwartungen herausbilden. Die können anders aussehen als die jetzigen, aber es wird wieder welche geben. Andernfalls lässt sich das Leben nicht aushalten.

der Standard : Sie schreiben in Ihrem Buch, der Kapitalismus habe die Religion ersetzt, obwohl er selbst keine Religion ist. Was heißt das?

Baecker: Benjamin lieferte den vermeintlichen Nachweis, dass der Kapitalismus der Befriedigung derselben Bedürfnisse dient, für welche einst die Religion zuständig war. Der Nachweis, dass der Kapitalismus der Nachfolger des Christentums im Umgang mit dem Schuldbewusstsein des Menschen ist, scheint getan. Doch so einfach ist es nicht. Das wusste auch Benjamin. Natürlich hat der Kapitalismus versucht, durch die Religion eingeübte Verhaltensmuster zu beerben - wie Schuld und Tilgung dieser Schuld -, doch es macht noch immer einen Unterschied, ob man in die Kirche oder in ein Kaufhaus geht. In der Kirche hat man es mit einem Gott zu tun, der letztlich das Unbestimmbare ist, im Kapitalismus mit der Möglichkeit, etwas Bestimmtes auszurechnen, und sei es, dass man ein Risiko kalkuliert.

der Standard : Wirtschaft bedeutet, Wetten auf die Zukunft abzuschließen. Ist ein gezähmter Kapitalismus nicht illusionär?

Baecker: Er ist gezähmt. Die Politik greift in den Kapitalismus ein. Wir sind andauernd dabei, den Kapitalismus für nichtkapitalistische Lebensbereiche zu nutzen und ihm ethisch-moralische Grenzen aufzulegen. Ganz zu schweigen davon, dass der Kapitalismus selbst sozial ist. Human ist der Mechanismus des Kapitals selber, wenn man ihn nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Ausbeutung, sondern unter dem Gesichtspunkt des Offenhaltens einer unbestimmten Zukunft betrachtet.

der Standard : Es sind also keine neuen Reglementierungen nötig?

Baecker: Diese Diskussion macht ja nur Sinn, wenn man sicher ist, dass man es mit einer Finanzkrise als Ergebnis eines Marktversagens zu tun hat. Es gibt auch die Gegenthese des Staatsversagens und des geldpolitischen Scheiterns der USA in den letzten Jahren.

der Standard : Sie meinen die Politik Clintons und Bushs, welche die lockere Vergabe von Hypothekenkrediten erst ermöglicht hat?

Baecker: Genau, gepaart mit der Zinspolitik von Alan Greenspan. Man könnte sagen: Wallstreet-Banken haben nur eine Gelegenheit in unverantwortlichem Ausmaß ausgenützt, die ihnen von der Politik eingeräumt wurde.

der Standard : Kommen wir zu einem anderen Themenbereich: Sie sagen, dass der Computer eine ähnliche Bedeutung für die Gesellschaft haben wird wie die Einführung des Buchdrucks. Inwiefern?

Baecker: Noch wissen wir nicht, wie der Computer die Gesellschaft verändert. Die Frage ist, ob wir einen kulturellen Modus finden, der uns erlaubt, mit dieser enormen Verfügbarkeit von Daten und der für Menschen nicht mehr nachvollziehbaren Verknüpfung umzugehen.

der Standard : Es kommt also darauf an, noch entscheiden zu können, was wichtig ist und was nicht?

Baecker: Ja. Mit dem Computer nehmen Komplexität und Unsicherheit zu. Man ist permanent mit sich widersprechenden Aussagen konfrontiert. Die Herausforderung ist, sich in einem beschleunigten Fluss des Geschehens so zu bewegen, dass man mitspielen kann und gleichzeitig in der Lage ist, die Effekte, die man auslöst, zu beobachten und zu korrigieren.

der Standard : Ein wertkonservativer Mensch könnte sagen, dem Relativismus sei so Tür und Tor geöffnet. Langfristige Erklärungsmodelle sind so nicht mehr möglich.

Baecker: Langfristige Erklärungsmodelle werden tatsächlich uninteressant. Aber es wird nicht Langfristigkeit durch Kurzfristigkeit ersetzt, sondern Langfristigkeit durch Geschicklichkeit.

der Standard : Wenn Massenmedien nichts mehr erklären können, worin besteht dann ihre Aufgabe?

Baecker: Die Massenmedien haben ja schon in der Moderne einen Weg gefunden, mit der Dynamisierung der Verhältnisse fertig zu werden, indem sie sich nur mehr auf das Berichten einzelner Ereignisse konzentrierten - immer in Hinblick darauf, an welches Ereignis das aktuelle Ereignis anknüpft und welches Ereignis als Reaktion zu erwarten ist. Dieses Modell muss nur noch variiert werden. Es wird neue Formen der Berichterstattung geben. Das wird auch Veränderungen für alte Medien wie das Buch bedeuten, weil sie sich immer im Kontext anderer Medien neu bestimmen. Vielleicht lesen wir also irgendwann wieder Gedichte auf den Aufmacherseiten der Tageszeitungen. Kulturpessimismus ist jedenfalls nicht angesagt.

der Standard : Aber in der Moderne haben Medien den Menschen die Arbeit der Selektion abgenommen. Mit dem Computer wird der Einzelne selbst zur Presseagentur.

Baecker: Ja, aber diese Individuen werden sich wieder Redaktionen suchen, die eine Vorauswahl treffen. Mich verblüfft, dass Künstler ihre Inhalte seltener auf eigene Webseiten stellen, sondern auf Facebook. Facebook bietet einen Rahmen der Selbstdarstellung, der nicht nur Vernetzung, sondern auch eine Idee davon liefert, wie Selbstdarstellung auszusehen hat.

der Standard : Der Begriff der Öffentlichkeit wird durch den Computer nicht infrage gestellt?

Baecker: Die Idee von Öffentlichkeit war immer schon eine Selbstüberschätzung der Massenmedien im Hinblick auf die Effekte, die sie für eine Gesellschaft haben. Diese Überschätzung gibt es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und wurde durch die Philosophie von Jürgen Habermas noch verstärkt. Der Grad der Medialisierung und Fragmentarisierung der Öffentlichkeit wird zunehmen. Das ändert nichts daran, dass die Funktion dessen, was wir Öffentlichkeit nennen, nämlich die Selbstversorgung des Individuums mit Nachrichten darüber, was los ist in der Welt, weiterhin erforderlich bleibt.

2009/09/02

Ein Parteisoldat als Folterinspektor?

Österreichs Sitz im europäischen Anti-Folter-Komitee wird neu besetzt. Zwei Experten und ein Expolitiker sind nominiert

für Falter

Die ersten Berichte erschienen in den 90er-Jahren, und sie sorgten lange für Schlagzeilen. Es ging um „folterähnliche Vorwürfe“, welche das Anti-Folter-Komitee des Europarats in Straßburg gegen hiesige Gefängnisse und Psychiatrien erhoben hatte. Sie handelten von abenteuerlichen Verhörmethoden und von „inakzeptablen“ Schubhaftbedingungen. Ein Bericht zur aktuellen Lage dürfte Ende des Jahres erscheinen. Der Inhalt ist noch unbekannt.

Gegenwärtig sind es aber nicht die Ergebnisse, die im NGO-Bereich für Empörung sorgen, sondern Personalrochaden rund um das Komitee selbst. Ende 2009 läuft das Mandat der österreichischen Entsandten Renate Kicker aus. Sie war zwei Perioden lang Österreichs Vertreterin in Straßburg und ist heute Vizepräsidentin des Komitees. Ihre Stelle wird neu besetzt. Ein Dreiervorschlag, den Österreichs Europaratsdelegation erstellt hat, liegt nach Falter-Informationen im zuständigen Unterausschuss in Straßburg. Einer der Kandidaten sorgt dabei für Unmut. Neben Walter Suntinger und Julia Kozma, zwei ausgewiesenen Experten, soll auch der einstige Sicherheitssprecher der ÖVP, der Nationalratsabgeordnete Wendelin Ettmayer, auf der Liste stehen. Ettmayer stolperte Anfang der 90er-Jahre über die sogenannte Fact-Finding-Mission, bei der ihm unsittliches Verhalten vorgeworfen wurde. Er legte sein Mandat zurück und arbeitete fortan im diplomatischen Dienst.

Ein Menschenrechtsexperte, der namentlich nicht genannt werden möchte, nennt die Nominierung eine Chuzpe: „Österreich scheint einstige Abgeordnete entsenden zu wollen, wo andere Länder unabhängige und im Monitoring erfahrene Experten entsenden.“ Eine offizielle Ausschreibung und ein Kandidatenhearing, wie vom Komitee empfohlen, haben nicht stattgefunden. Ettmayer, der auch als Botschafter im Europarat tätig war, sieht sich für den Posten dennoch geeignet: „Zeigen Sie mir einen Botschafter, der unabhängiger war als ich. Ich habe mich immer für Menschenrechte eingesetzt.“