2007/12/19

Fernsehen, bis der Arzt kommt


"Falter" Nr. 51-52/07


Ressort: Medien
Martin Gantner


WERBUNG Nicht die Angst vor Langeweile, sondern die Hoffnung auf Profit lässt Werbesender in Arztpraxen sprießen. So wird der Patient nicht nur Kunde des Arztes, sondern auch der Werbewirtschaft.



In der Ambulanz des Sanatoriums Hera im neunten Bezirk starren die Patienten in einen Bildschirm. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Missfällt dem Publikum das Fernsehprogramm, kann es nicht umschalten. Es gibt nur einen Sender, den dafür auf drei 42 Zoll großen Plasmabildschirmen: medscreen. News aus In- und Ausland, Kinotrailer, SMS- Gewinnspiel, Wetter, Gesundheitstipps, den neuen Hüftgelenksersatz und Tratsch aus der Society, eingebettet in kurze Werbespots. Laufend online aktualisiert. Medscreen ist nicht der einzige derartige Sender in Österreich. Seit Februar berieseln insgesamt fünf dieser Special-Interest-Kanäle die Patienten in Arztpraxen und Spitalsambulanzen. Bereits die Sendernamen deuten auf monothematisches Programm: MedTV, VitaTV, medscreen, y-doc und Wartezimmer-TV. Laut Eigendefinition betreiben die Sender Aufklärungs-TV in den Vorzimmern der Götter in Weiß. Sie wollen den Patienten die Angst vor der Behandlung nehmen, sie über medizinische Sachverhalte aufklären, vor Grippezeiten oder einer vergrößerten Prostata warnen. Der Arzt seinerseits soll die Möglichkeit haben, seine Praxis vorzustellen, über Öffnungszeiten und Vertretung zu informieren und seine Leistungen anzubieten. Auch solche, die durch die Krankenkassa nicht gedeckt sind, für die der Patient also extra bezahlen muss: Fettabsaugungen, das Entfernen von Tattoos oder spezielle Impfungen etwa.

Praxis-TV ist also, wie alle Fernsehsender, Informations- und Werbeplattform zugleich - für den Arzt und für Dritte. Der Sender y-doc wendet sich auf seiner Website an die Ärzte mit der Empfehlung: "Heben Sie sich von Tankstellen und Trafiken ab - und holen Sie noch mehr aus ihrer Ordination." Medscreen prophezeit "Umsatzsteigerungen von bis zu dreißig Prozent" und aufgrund der medizinischen Aufklärung im Wartesaal weniger Arbeit für die Ärzteschaft: "Und sparen Sie beim Beratungsgespräch bis zu zwanzig Prozent Zeit." Stimmen die Verheißungen von medscreen, dann ist das für den Arzt leichtverdientes Geld. Denn bei VitaTV sind Bildschirm und Programm für den Arzt völlig kostenlos, bei y-doc sind einmalig 699 Euro zu zahlen. Medscreen verlangt eine monatliche Flatrate von 290 Euro, die aber "als Werbekosten absetzbar" sind. Und der Patient? Ihm wird zumindest Kurzweil geboten. Der Patient als Kunde - des Arztes und der Werbewirtschaft.

Den Sendern geht es freilich nicht nur um Aufklärung und um ein besseres Arzt-Patient-Verhältnis. Es geht um sehr viel Geld. Das belegen auch die jüngsten Entwicklungen auf dem heimischen Markt. Im Februar gesellte sich der neueste Sender zu den bereits vorhandenen vier: VitaTV, ein Produkt der Werbefirma Epamedia. Epamedia ist der neben Gewista größte Plakatierer des Landes und verantwortlich für 150 sogenannte Überkopfmonitore in der Shopping City Süd. Man hat das Potenzial der digitalen Flächenwerbung erkannt. Für den Inhalt von VitaTV ist Interspot Film verantwortlich, die auch die "Seitenblicke" und "Frisch gekocht" produziert. Die Technik liefern Telekom Austria und Kapsch BusinessCom. Derzeit werden laut Eigenaussagen bereits 270 Ärzte und 27 Ambulanzen von VitaTV bespielt. Alle Anbieter zusammen kommen auf ungefähr 1600 Praxen und 130 Ambulanzen in ganz Österreich. Medscreen etwa wirbt mit einer Million Werbekontakten im Monat, der harten Währung in der Werbebranche. Den großen Vorteil gegenüber herkömmlicher Fernseh- und Onlinewerbung beschreibt medscreen auf seiner Homepage: Es gibt "kein Wegklicken, kein Wegzappen, kein Umblättern, sondern volle Aufmerksamkeit".

Auch ein anderes Beispiel zeigt, wie profitabel das Geschäft mit Praxis-TV sein kann: Gerhard Andlinger, ein Linzer Investor, der in die USA ausgewandert ist, hat sich beim Sender medscreen groß eingekauft. Das Startup-Unternehmen wurde erst 2006 gegründet, ein Jahr später hat es sich bereits an der Spitze der hiesigen Praxis-TV-Sender etabliert, und "nun ist auch ein Börsengang langfristig vorstellbar", sagt Gerald Buchas, Geschäftsführer von medscreen. Eine beachtliche Performance für ein Unternehmen, das es noch nicht lange gibt und das dennoch bereits dreißig Mitarbeiter zählt. Wieso Produkte wie medscreen für die Werbewirtschaft so interessant sind, erklärt Gerhard Unterganschnigg, Manager bei Andlinger & Co, dem Konzern des "reichen Onkels aus Amerika" Gerhard Andlinger: "Die Möglichkeit, so zielgruppengerecht zu werben, war auch für uns ein Kriterium. Die Situation im Wartezimmer ist eine besondere. Der Kunde ist praktisch gezwungen, auf den Bildschirm zu schauen. Die Qualität des Kontakts ist dabei besser als bei anderen Medien im öffentlichen Raum." Die Firma y-doc wird noch deutlicher. Ein Schreiben, das offensichtlich für Werbekunden gedacht ist und das dem Falter vorliegt, verrät, was sich Kunden von einer Werbeeinschaltung auf ihrem Sender erwarten dürfen: Demnach habe eine "unabhängige Studie" ergeben, "dass bereits nach wenigen Wochen Werbeeinschaltung für ein OTC-Präparat etwa zwanzig Prozent der befragten Ärzte dieses aktiv den Patienten empfehlen". OTC(Over the Counter)-Präparate sind nicht verschreibungspflichtige Medikamente, wie etwa Aspirin oder Mexalen, die jeder Kunde ohne Rezept in der Apotheke kaufen kann. Klarerweise haben vor allem Pharmafirmen und bekannte Marken ein besonderes Interesse an Werbeeinschaltungen in Arztpraxen. In diesem Schreiben wird auch auf "sechzig Prozent der Top-30-Pharmaunternehmen" verwiesen, die zu den Kunden von y-doc zählen sollen, darunter Firmen wie Schering, Bayer oder Kwizda. Neben Pharmaunternehmen kaufen aber auch Firmen wie Nestlé, Zeiss oder Hakle Werbespots, ebenfalls interessiert zeigen sich die Tourismusbranche und Firmen aus dem Wellnessbereich.

Die inserierenden Unternehmen geben sich bedeckt. Eine Mitarbeiterin einer Pharmafirma möchte namentlich nicht genannt werden, nimmt in einem kurzen Telefonat aber zumindest zu dem Vorwurf Stellung, Patienten könnten manipuliert werden und allein höhere Absätze seien das Ziel der Pharmafirmen. Sie wiegelt ab und verweist auf die strengen Werberichtlinien: "Es dürfen keine rezeptpflichtigen Arzneien beworben und keine Therapievorschläge gemacht werden. Nur im OTC-Bereich ist jegliche Werbung möglich. Doch das ist nicht neu." Denn das Arzneimittelgesetz ist bei Werbung mit Medikamenten sehr streng. Laienwerbung für rezeptpflichtige Medikamente ist untersagt. Erlaubt sind aber sogenannte Indikationen, etwa Spots oder Plakate anlässlich der bevorstehenden Grippezeit, ohne jedoch den Namen eines Medikaments zu nennen. Aber die Werbenden hoffen, dass mehr Menschen sich impfen lassen, nachdem sie einen solchen Spot gesehen haben. Geht es nach Gerald Bachinger, dem Chef der österreichischen Patientenanwälte, dürften die Gesetze bei Praxis-TV ruhig strenger sein: "Ich könnte mir etwa ein Qualitätsgütesiegel für solche Sender gut vorstellen." Validität und Qualität der Informationen könnten so sichergestellt werden. Er würde es zwar begrüßen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient gestärkt würde, "dass aber auch Leistungen beworben werden, die nicht in Kassenverträgen vereinbart sind, sehe ich als sehr problematisch an". Birgit Merz von der Österreichischen Ärztekammer findet an Praxis-TV "grundsätzlich nichts Schlechtes, solange der Arzt wahrheitsgemäß informiert". Es habe aber auch schon Flugzettelaktionen gegeben, bei denen eine schönheitschirurgische Restplatzbörse beworben wurde. "So marktschreierisch darf das Ganze nicht sein."

Was bringt Praxis-TV also den Patienten, wenn sich einerseits Pharmabetriebe eine angeblich zwanzigprozentige Absatzsteigerung ihrer Produkte erwarten können und Ärzte andererseits mit einer Umsatzsteigerung von dreißig Prozent rechnen dürfen? Kinotrailer, News aus In- und Ausland, Societytratsch. Und vielleicht den einen oder anderen zusätzlichen Eintrag in den Impfpass.

2007/12/07

Meister Proper am Puls

"Falter" Nr. 49/07 vom 05.12.2007 Seite: 24
Ressort: Medien

Martin Gantner und Barbara Tóth



PORTRÄT Thomas Rottenberg ist PulsTV-Moderator, "Standard"-Kolumnist, Stadtmensch und bald Moderator einer neuen Wochenschau. Wie kaum ein anderer beherrscht er das Infotainment-Geschäft.


fotots: www.pulstv.at

Thomas Rottenbergs Hund ist ein Jahr alt und heißt Pinsel. Der schwarz-weiße Labrador-Retriever-Münsterländer Mischling ist dauernd in Bewegung, wie sein Herrl. Die Kellnerin im Café Schottenstift bringt ihm eine Schale Wasser, er trinkt hastig, dreht sich um und taucht seinen Schwanz hinein. "Er hat eine hochpubertäre Phase", entschuldigt Rottenberg seinen nervösen Begleiter. Für ihn gilt diese Ausrede nicht mehr. Rottenberg ist 38, doch gesetzt wirkt auch er nicht.

Der sommersprossige Mann, dessen kahlrasierter Kopf zum Markenzeichen wurde und der gerne jenen urban-lässigen Kleidungsstil pflegt, der auch in Berlin-Mitte oder im Hamburger Schanzenviertel die Berufsjugendlichen auszeichnet, scheint unter ständigem Stress zu stehen. Rottenberg hat sich in den letzten zwanzig Jahren ein kleines Ich-AG-Imperium aufgebaut. Unter seiner Dachmarke agiert er als Standard-Gesellschaftskolumnist ("Rottenbergs Boulevard") mit distanziert-spöttischem Blick, als erfolgreicher PulsTV-Moderator der Sendung "Talk of Town" und als Buchautor mit Hang zu Genderthemen ("Die Männerwaschanleitung", "Das Männerverstehbuch").

Demnächst wird sich das Portfolio des bekennenden Narziss ("Eitelkeit ist in meinem Job hilfreich") noch erweitern. Ab 4. Februar moderiert er einmal in der Woche einen einstündigen, politischen Wochenrückblick auf seinem Heimatsender PulsTV, der dann Puls4 heißen wird. Hinter dem Namen steckt Programm. Der ambitioniert gemachte, aber wenig beachtete Stadtsender, der im Sommer an die zu Pro7 gehörige Seven-One-Media verkauft wurde, möchte zum vierten Vollprogramm Österreichs werden. Rottenbergs Wochenschau muss es dann theoretisch mit so prestigeträchtigen Sendungen wie "Im Zentrum", "Thema" oder "Report" aufnehmen. Gesendet wird live, im Gegensatz zu "Talk of Town" ohne Zuseheranrufe, dafür mit mehreren Studiogästen und zugespielten Beiträgen. "Ich will nicht zu sehr entertainisieren, sondern politische Themen konsumierbar machen", umschreibt Rottenberg das Programm für sein neues Programm.


Ein Satz, der ganz gut erklärt, wie die bisherige Karriere Rottenbergs funktionierte. Der Sohn eines Wiener Lehrerpaares verstand es immer, U- und E-Journalismus zu kombinieren, lange bevor der Begriff "Infotainment" dieses Phänomen klassifizierte und Gestalten wie Exfinanzminister Karl-Heinz Grasser die Grenzen zwischen politischer Berichterstattung und Seitenblicke sprengten.

Rottenberg begann beim Hörfunk, zu einer Zeit, als es den Sender FM4 noch nicht gab und sich intelligentes Jugendradio auf Ö3 in Formaten wie "ZickZack" oder "Musicbox" abspielte. Nach einem Zwischenspiel beim Redaktionsbüro Langbein & Skalnik, wo er unter anderem für RTL Explosiv Geschichten lieferte, wechselte Rottenberg zum Falter, wo er mit seinem Partyservice den Grundstein für sein Szenemensch-Dasein legte. Seit 1999 schreibt er für den Standard, zuerst für die Innenpolitik, wo aber seine Art des Beobachtungsjournalismus nicht funktionierte, nun in seiner - mehr oder weniger von ihm selbst erfundenen - Rolle als Gesellschaftskolumnist wider Willen. "Der Umgang mit der High Society ist ungefähr so wie der Umgang mit Pornografie: Kein Mensch kauft das Zeug, aber gleichzeitig steht eine Megaindustrie dahinter."

"Thomas war nie der beinharte Faktenaufreißer, aber er hatte immer ein Gespür für intelligente Stadtgeschichten", erinnert sich Oliver Lehmann, einst Falter-Politik-Redakteur, heute für die Kommunikation der Elite-Uni in Gugging verantwortlich. "Ihn zeichnen extreme Neugier, Beharrlichkeit und der unbedingte Drang, die Dinge vor Ort zu erleben, aus", meint FM4-Moderator Martin Blumenau, der Rottenberg aus seinen Anfangsjahren beim Radio kennt.

Vor Ort, das hieß beispielsweise, dass sich der junge Rottenberg an den Polizeisperren vorbei zu den Punks durchkämpfte, die ein Haus in der Ägidigasse besetzt hatten. Oder dass er türkischen Jugendlichen nachfuhr, die aus Österreich in ihre Heimat abgeschoben worden waren. Oder mit dem Häfenpoeten Jack Unterweger die Strizzis des Wiener Rotlichtviertels aufsuchte, um eine Milieureportage zu schreiben. Unterweger war damals noch nicht wegen neunfachen Mordes verurteilt.

Rottenberg-Geschichten sind immer auch solche, in die er sich persönlich involvieren kann. Er ist das personifizierte Gegenteil eines Schreibtischtäters, seine Bereitschaft zur Selbstdarstellung ging einmal sogar so weit, dass er sich fast nackt aufs Falter-Cover heben ließ - nur ein Marihuana-Blatt bedeckte seinen Mannesstolz. Über seine Motivation gehen die Meinungen auseinander, mit ein Grund dürfte gewesen sein, dass seine "Redakteursseele nicht mehr in einer schmächtigen, schmalbrüstigen Gestalt haust", sondern im muskelbepackten Meister-Proper-artigen Körper eines Metrosexuellen ihre neue Bleibe gefunden hatte. "Rottenberg als Skulptur seiner selbst", witzelte damals Falter-Chefredakteur Armin Thurnher im Vorwort. Das Wort metrosexuell gab es damals noch nicht, der creme- und peelinggläubige Rottenberg, der seinen nach wie vor covertauglichen Körper mit Schwimmen, Laufen und Skitourengehen fit hält, hätte es sicher gerne erfunden. Inzwischen würdigte ihn auch News als einen der "modischsten Moderatoren" Österreichs. Rottenbergs Kommentar: "Persönlich bedeutet mir das nichts, aber marketingstrategisch ist das nicht schlecht." Dass seine derzeitige Talkshow bis zu achtmal pro Tag wiederholt wird, tut ein Übriges. So oft wie Rottenberg flimmern auf anderen Sendern nur die Werbeblöcke über den Bildschirm. "Für die persönliche Eitelkeit ist das super."

Je näher dem Stadtrand, desto öfter wird "Rotte", wie ihn Freunde nennen, auf seine Sendung angesprochen. "Daran sieht man, wo viel geschaut wird und wo nicht."

Den Stadtrand kennt er gut. Rottenberg wuchs am Wienerfeld in Wien-Favoriten auf, "genau dort, wo die Nachteile der Stadt und des Landes aufeinandertreffen". Sein Vater musste als Jude vor den Nazis zuerst nach Frankreich flüchten, emigrierte dann nach Palästina und kam als Soldat der englischen Armee zurück nach Wien. Er wurde Direktor der ersten Wiener Gesamtschule und war ein "in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat" (Rottenberg). Der Großvater mütterlicherseits war überzeugter Hitleranhänger - "eine klassische österreichische Mischung also".

Der gehobene gesellschaftspolitische TV-Talk, wie er ab Februar auf Puls4 zu sehen sein wird, ist vermutlich auch die Darstellungsform, die Rottenbergs journalistischer Herangehensweise am besten entspricht: Hier werden Themen auf einer persönlichen, emotionalen Ebene abgehandelt, ohne dass man zu sehr ins Detail gehen muss. Hier geht es um prägnante Einschätzungen und um Schlagfertigkeit und Wortwitz - beides hat Rottenberg. "Fernsehen ist ein latent dummes Medium. Du musst immer platt sein, um verständlich zu bleiben", meint er ganz pragmatisch. Und es geht um den Flirt mit der Kamera und um die Bereitschaft zur augenzwinkernden Selbstdarstellung. Auch das kann er. "Ich finde es gut, dass er den Weg zurück von der Wiener Szenefigur hin zum guten Journalisten gefunden hat", meint Regisseurin Elisabeth Scharang, die so wie Blumenau gemeinsam mit Rottenberg bei der "Musicbox" war.

Viele Journalisten wundern sich, warum der ORF ihn nicht schon längst für eine Talk-Show angefragt hat. Rottenberg sagt, er treffe oft Kollegen vom "ORF", die zugeben würden: "Wir schaffen es nicht, so eine Sendung auf die Beine zu stellen." Er glaubt den Grund hierfür zu kennen: "Aufgrund ihrer Größe trauen sie sich nicht, etwas ganz Einfaches zu machen. Stattdessen sitzen sie fett und aufgeblasen und von ihrer eigenen Wichtigkeit gelähmt am Küniglberg."


2007/12/06

A Wödmaster




"Falter" Nr. 41/07 vom 10.10.2007

http://www.youtube.com/watch?v=ck1SobK2WPU



ABTAUCHEN Auf seiner Reise zum Mittelpunkt der Welt steht er bei 214 Metern Meerestiefe - mit nur einem Atemzug. Der Wiener Herbert Nitsch ist der weltbeste Free Diver.



Sind Sie lebensmüde? "Nein", sagt Herbert Nitsch bestimmt. Seine Schilderungen während der vergangenen zwei Stunden haben die Frage nahegelegt. Was der 37-jährige Wiener erzählt, klingt unglaublich, beängstigend und faszinierend zugleich. Mit breitem Lächeln berichtet Nitsch von Weltrekorden, von Tauchgängen ohne Sauerstoffflaschen, von einem Leben zwischen Himmel und Meeresboden. Herbert Nitsch ist von Beruf Pilot, seine Profession aber ist das Freitauchen. Darin ist er der Beste - der Welt. Doch bei eben jener letzten Frage verschwindet das Dauerlächeln aus seinem Gesicht. An dem Gesagten soll kein Zweifel bestehen: Nitsch ist nicht lebensmüde. Nitsch ist Apnoetaucher.

Apnoe ist griechisch und heißt "ohne Atem". Neun Minuten und vier Sekunden kann Nitsch die Luft anhalten. "Die ersten sechs Minuten sind kein Problem", sagt er. Erst ab Minute sieben geht ihm die Luft aus. Doch damit nicht genug. Nitsch kann "ohne Atem" nicht nur länger unter Wasser bleiben, als es Delfine für gewöhnlich tun, er taucht auch tiefer als je ein Mensch vor ihm. Im Juni dieses Jahres erreichte er auf der griechischen Insel Spetses die 214-Meter-Marke im "No Limit"-Tauchen. Bekannt wurde die Abfahrtsdisziplin des Freitauchens vor allem durch den Film "Le Grand Bleu" des Franzosen Luc Besson. Zwei Männer, dargestellt von Jean Reno und Jean-Marc Barr, tauchen darin um die Wette. Am Ende stirbt der eine "im Rausch der Tiefe". Im Film gilt es die 100-Meter-Marke zu schlagen. Reno geht weiter, kommt aber nicht mehr hoch.

In den letzten zwanzig Jahren hat die Wirklichkeit das Kino eingeholt. Herbert Nitsch hat die 100-Meter-Marke längst hinter sich gelassen. Für die 214 Meter Tiefe benötigte er gerade einmal vier Minuten und zwanzig Sekunden. Auf einen Schlitten gefesselt, einen Carbonhelm auf dem Kopf und ohne Sauerstoffflaschen am Körper ("unnötiger Ballast"), rast er, an einem Seil befestigt, in die Tiefe. Nitsch glaubt nicht, dass zurzeit jemand anderer als er diesen Rekord selbst knacken könnte. Doch er ist überzeugt davon, dass er selbst noch tiefer gehen kann.

Nitsch ist athletisch gebaut, groß und hat eine Glatze. Er besitzt die Lässigkeit eines Surfers, ohne dabei arrogant zu wirken. Wenn er über seinen Sport spricht, davon, was unter Wasser mit seinem Körper geschieht, dann klingt alles nach Badewannenidyll. Erst bei längerem Nachdenken wird klar: Nitsch spricht von Extremen, von einem Ort, der für die meisten Menschen den sofortigen Tod bedeuten würde. Zum Gespräch im Palmenhaus kommt er mit Verspätung, am Vorabend hat es länger gedauert. Das Frühstück nimmt er mittags um eins ein. Er ist kein gewöhnlicher Spitzensportler, der früh schlafen geht, nachdem er tagsüber drei Trainingseinheiten absolviert hat. Richtig trainiert Nitsch ohnedies "nur kurz vor den Wettkämpfen". Vor der Weltmeisterschaft Anfang November in Sharm el Sheikh wird es wieder so weit sein. Im ägyptischen Badeort will Nitsch den Weltrekord in der letzten noch ausständigen Disziplin knacken. Es wäre sein zwanzigster. Den bestehenden Rekord holte er sich diesen Sommer in Griechenland. An besagtem 14. Juni war Nitsch nicht zum ersten Mal auf der Insel Spetses. Bereits drei Jahre zuvor stellte er im Saronischen Golf zwei andere Weltrekorde auf.

Nitsch mag die Insel. "Sie ist ruhig und nur wenige Touristen sind dort." Für das, was er an diesem Tag vorhat, sind solche Details nicht unwesentlich. Dort, wohin er sich gleich begeben wird, ist es dunkel, kalt und alles andere als für den Menschen gemacht. Alles muss passen. An der Wasseroberfläche, unmittelbar vor dem Abtauchen, hyperventiliert Nitsch tief und lang. Sein Lungenvolumen beträgt 15 Liter, dreimal so viel wie das eines durchschnittlichen Menschen. "Sobald ich unter Wasser bin, pumpe ich die Luft aus der Lunge in Nase, Nebenhöhlen und Mittelohr, weil der Druck alle zehn Meter um ein Bar zunimmt." Bei 214 Metern ist der Druck mit 22 Bar elfmal höher als in einem Autoreifen. Mit drei Metern pro Sekunde rast Nitsch in die Tiefe. Ab 50 Metern, erzählt der Taucher, mache sich der Tiefenrausch langsam bemerkbar. Der Druck steigt, sein Lungenvolumen wird immer kleiner, bis es letztlich die Größe eines Tennisballs erreicht. Mit zunehmender Tiefe weicht immer mehr Blut aus seinen Gliedmaßen. Sein Körper ist totenblass. Reflexartig zieht sich das Blut dorthin zurück, wo es die lebensnotwendigen Funktionen mit Sauerstoff versorgen muss: in Lunge, Herz und Gehirn. In den übrigen Regionen seines Körpers ist Nitsch sprichwörtlich blutleer. Er trägt eine kleine Spezialbrille. "Der hohe Druck würde mir die Augen aus dem Kopf saugen." Aufgrund des sich lösenden Stickstoffs im Blut kommt Nitsch "wie ein Betrunkener" an seinem Zwischenziel an. Abläufe, die zuvor nicht automatisiert wurden, sind jetzt kaum zu bewältigen. "Das ist, als würde ein Betrunkener versuchen, Auto zu fahren. Einfachste Additionen sind jetzt nicht mehr möglich." Allein das Lösen des Gewichts, das ihn in die Tiefe zog, funktioniert.

Nach etwas mehr als zwei Minuten und 214 zurückgelegten Tiefenmetern hat Nitsch sein Ziel aber noch lange nicht erreicht: "Der Weg nach oben stellt das eigentliche Problem dar, der Sauerstoff geht am Ende und nicht auf halbem Weg aus." Würde der Taucher jetzt nicht an einem Seil hochgezogen, er fände den Weg zurück nicht. Orientierung ist in der Dunkelheit und aufgrund seiner Verfassung unmöglich. Mithilfe eines Carbonhelms geht's zurück an die Oberfläche. Im Gegensatz zu vielen anderen Tauchern verwendet Nitsch einen Helm und keinen Ballon. Der Helm ermöglicht es, beim Auftauchen drei Meter pro Sekunde zurückzulegen und nicht länger als nötig auf 214 Metern Tiefe zu bleiben. Drei zusätzliche, alternative Systeme sollen ein sicheres Auftauchen garantieren. Der Helm ist eine Spezialanfertigung eines Griechen, den Nitsch erst vor einem Jahr kennen gelernt hat. Lange genug, um ihm sein Leben anzuvertrauen. "Er ist ein Tüftler, genau wie ich." Sonst verlässt sich Nitsch auf niemanden als auf sich selbst. Auf seinem Tauchgang wird er von keinen Sicherheitstauchern begleitet. "Zu gefährlich", sagt Nitsch, "nicht für mich, sondern für die Taucher".

Kurz unter der Meeresoberfläche legt Nitsch noch einen einminütigen, letzten Stopp ein. Eine Zeitspanne, die ihm in seinem Rausch ewig vorkommt. Nach vier Minuten und zwanzig Sekunden kommt er endlich an der Wasseroberfläche an, holt tief Luft, reißt sich Nasenklemme und Brille vom Kopf und formt Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis. Die Geste bedeutet: "Ich bin okay." "In diesem Zustand ist das gar nicht so einfach. Das muss innerhalb von 15 Sekunden passieren, sonst ist der Versuch ungültig." Nitsch erzählt, wie sein Vater an diesem 14. Juni 2007 zu ihm ins Wasser springt und ihn umarmt. Doch viel Zeit bleibt nicht. Nitsch nimmt eine Flasche reinen Sauerstoff und taucht für eine Viertelstunde auf zehn Meter Tiefe, um den Stickstoff im Blut ausperlen zu lassen - um wieder "nüchtern" zu werden.

Bereits als Kind verbrachte Nitsch viel Zeit mit seinem Vater am Meer. "Urlaub und Blau gehören für mich seit jeher zusammen." Auch Tauchen und Fotografieren unter Wasser schätzte er schon lange. Unter anderem wurde Nitsch deshalb Pilot, damit die Abstände zwischen den Tauchgängen nicht allzu groß würden. So kann er von Insel zu Insel reisen, kann Arbeit und Sport verbinden. Dass er aber länger als andere unter Wasser bleiben kann, wurde ihm erst vor gut zehn Jahren, während eines Tauchurlaubs am Roten Meer, bewusst. Die Fluggesellschaft hatte seine Tauchausrüstung verloren, Nitsch ging kurzerhand ohne Equipment ins Wasser. Beim Fotografieren müsse man halt ein bisserl warten, erklärt Nitsch lapidar. Kamera einstellen, Foto machen, "ein zweites Foto geht noch", warten, bis sich der Blitz auflädt, und ein zweites Foto schießen. Am Ende der Urlaubswoche tauchte er ganz selbstverständlich auf dreißig Meter. Ohne Sauerstoffflasche. "Zurück in Österreich habe ich erfahren, dass der österreichische Rekord bei 34 Metern lag. Also kaufte ich mir ordentliche Flossen und stellte einen neuen Rekord auf."

Für die meisten Menschen, allen voran für Nitschs Eltern, ist es schwer zu verstehen, weshalb sich Nitsch solchen Gefahren aussetzt. Er nennt Gefahren "Risiken", die es auf dem Weg zu neuen Rekorden immer wieder neu zu "kalkulieren" gelte, und bestreitet, dass die "kalkulierten Risiken" zur Sucht geworden sind. "Ich schätze die Tatsache, dass sich unser Leben meist an der Erdoberfläche abspielt und ich als Einziger unter dieser Oberfläche bin", sagt er. "So, als wäre die Welt eine Scheibe: Alle sind oben, nur ich bin unten."

Nitsch treibt aber auch der Wettkampfgedanke. Mit einer beängstigenden Geschwindigkeit hat er das Feld in den vergangenen Jahren aufgerollt. Von seinen Konkurrenten wird er auch "Roboter" genannt, aber eher "der sowjetische Typ". Nitsch taucht in einer anderen Liga. Zuletzt starb der Franzose Luc Leferme im April 2007 bei dem Versuch, den Tieftaucher aus Österreich zu schlagen. Freunde Lefermes wissen, dass die Schnelligkeit, mit der Nitsch Maßstäbe setzte, beängstigend auf den Franzosen wirkte. Beängstigend und gleichzeitig faszinierend. Nitsch befand sich mitten in der Vorbereitung für seinen Weltrekordversuch im Juni, als er per SMS vom Tod des Franzosen erfuhr. "Ich war schockiert." Er kannte Leferme und beschreibt ihn als sehr "sympathischen Menschen, der auch sehr vernünftig gehandelt hat". So vernünftig Tauchen in solchen Tiefen eben sein kann. "So grotesk es klingt: Ich war erleichtert, als ich erfahren habe, dass der Unfall technischen Ursprungs war." Aber Leferme war nicht der Einzige. Außer Nitsch und dem Franzosen tauchten schon vier andere Menschen "ohne Atem" tiefer als 160 Meter. Unbeschadet überlebt hat außer Nitsch nur die Amerikanerin Tania Streeter. Der Venezolaner Carlos Costa sitzt im Rollstuhl, die beiden anderen sind tot. Nitsch scheint Tragödien auszublenden: "Die haben das halt anders gemacht."

Wilhelm Welslau ist Taucharzt in Wien. Er arbeitete lange mit Nitsch zusammen, vor einigen Jahren beendete er die Zusammenarbeit, wollte die Verantwortung nicht weiter mittragen. Welslau sagt, dass es praktisch unmöglich sei, zu wissen, wie der Körper eines Apnoetauchers in diesen Tiefen reagiert. "Es gibt keine Erfahrungswerte. Gewiss gab es die auch nicht, als der erste Mensch am Mond war, aber beim No-Limit-Tauchen sehe ich die Sinnhaftigkeit dahinter nicht." Jeder Versuch könne aus Gründen scheitern, die wir heute noch nicht kennen. "Das ist russisches Roulette." Im Falle von Nitsch fürchtet er: "Das geht so lange, bis er nicht mehr hochkommt." Auch sein Kollege Paul Haber, Sportmediziner am Wiener AKH, ist skeptisch: "Andere Leute müssten in solch einer Tiefe bereits einen Panzeranzug tragen, um dem Druck standzuhalten. Ich sehe die Gefahr, dass die Rippen brechen oder dass der enorme Unterdruck für die Lunge zu groß wird. Jeder Versuch könnte tödlich enden."

Der Weltrekordtaucher sieht das naturgemäß anders: "Könnte ich das Risiko nicht kalkulieren, würde ich es auch nicht eingehen." Günter Amesberger, Sportpsychologe und ÖFB-Mentalcoach, hält vom Begriff des "kalkulierten Risikos" nicht viel: "Risiko ist nur schwer quantifizierbar. Das bedeutet bestenfalls, dass er bereit ist, dieses Risiko zu tragen." Aber Nitsch kalkuliert weiterhin. Nächstes Jahr will er seinen Rekord noch einmal überbieten. Wo und wann, ist noch ungewiss. Das Ziel: die 1000-Fuß-Marke, 304 Meter unterhalb des Meeresspiegels. Ohne Atem.






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