"Falter" Nr. 41/07 vom 10.10.2007
http://www.youtube.com/watch?v=ck1SobK2WPU
ABTAUCHEN Auf seiner Reise zum Mittelpunkt der Welt steht er bei 214 Metern Meerestiefe - mit nur einem Atemzug. Der Wiener Herbert Nitsch ist der weltbeste Free Diver.
Sind Sie lebensmüde? "Nein", sagt Herbert Nitsch bestimmt. Seine Schilderungen während der vergangenen zwei Stunden haben die Frage nahegelegt. Was der 37-jährige Wiener erzählt, klingt unglaublich, beängstigend und faszinierend zugleich. Mit breitem Lächeln berichtet Nitsch von Weltrekorden, von Tauchgängen ohne Sauerstoffflaschen, von einem Leben zwischen Himmel und Meeresboden. Herbert Nitsch ist von Beruf Pilot, seine Profession aber ist das Freitauchen. Darin ist er der Beste - der Welt. Doch bei eben jener letzten Frage verschwindet das Dauerlächeln aus seinem Gesicht. An dem Gesagten soll kein Zweifel bestehen: Nitsch ist nicht lebensmüde. Nitsch ist Apnoetaucher.
Apnoe ist griechisch und heißt "ohne Atem". Neun Minuten und vier Sekunden kann Nitsch die Luft anhalten. "Die ersten sechs Minuten sind kein Problem", sagt er. Erst ab Minute sieben geht ihm die Luft aus. Doch damit nicht genug. Nitsch kann "ohne Atem" nicht nur länger unter Wasser bleiben, als es Delfine für gewöhnlich tun, er taucht auch tiefer als je ein Mensch vor ihm. Im Juni dieses Jahres erreichte er auf der griechischen Insel Spetses die 214-Meter-Marke im "No Limit"-Tauchen. Bekannt wurde die Abfahrtsdisziplin des Freitauchens vor allem durch den Film "Le Grand Bleu" des Franzosen Luc Besson. Zwei Männer, dargestellt von Jean Reno und Jean-Marc Barr, tauchen darin um die Wette. Am Ende stirbt der eine "im Rausch der Tiefe". Im Film gilt es die 100-Meter-Marke zu schlagen. Reno geht weiter, kommt aber nicht mehr hoch.
In den letzten zwanzig Jahren hat die Wirklichkeit das Kino eingeholt. Herbert Nitsch hat die 100-Meter-Marke längst hinter sich gelassen. Für die 214 Meter Tiefe benötigte er gerade einmal vier Minuten und zwanzig Sekunden. Auf einen Schlitten gefesselt, einen Carbonhelm auf dem Kopf und ohne Sauerstoffflaschen am Körper ("unnötiger Ballast"), rast er, an einem Seil befestigt, in die Tiefe. Nitsch glaubt nicht, dass zurzeit jemand anderer als er diesen Rekord selbst knacken könnte. Doch er ist überzeugt davon, dass er selbst noch tiefer gehen kann.
Nitsch ist athletisch gebaut, groß und hat eine Glatze. Er besitzt die Lässigkeit eines Surfers, ohne dabei arrogant zu wirken. Wenn er über seinen Sport spricht, davon, was unter Wasser mit seinem Körper geschieht, dann klingt alles nach Badewannenidyll. Erst bei längerem Nachdenken wird klar: Nitsch spricht von Extremen, von einem Ort, der für die meisten Menschen den sofortigen Tod bedeuten würde. Zum Gespräch im Palmenhaus kommt er mit Verspätung, am Vorabend hat es länger gedauert. Das Frühstück nimmt er mittags um eins ein. Er ist kein gewöhnlicher Spitzensportler, der früh schlafen geht, nachdem er tagsüber drei Trainingseinheiten absolviert hat. Richtig trainiert Nitsch ohnedies "nur kurz vor den Wettkämpfen". Vor der Weltmeisterschaft Anfang November in Sharm el Sheikh wird es wieder so weit sein. Im ägyptischen Badeort will Nitsch den Weltrekord in der letzten noch ausständigen Disziplin knacken. Es wäre sein zwanzigster. Den bestehenden Rekord holte er sich diesen Sommer in Griechenland. An besagtem 14. Juni war Nitsch nicht zum ersten Mal auf der Insel Spetses. Bereits drei Jahre zuvor stellte er im Saronischen Golf zwei andere Weltrekorde auf.
Nitsch mag die Insel. "Sie ist ruhig und nur wenige Touristen sind dort." Für das, was er an diesem Tag vorhat, sind solche Details nicht unwesentlich. Dort, wohin er sich gleich begeben wird, ist es dunkel, kalt und alles andere als für den Menschen gemacht. Alles muss passen. An der Wasseroberfläche, unmittelbar vor dem Abtauchen, hyperventiliert Nitsch tief und lang. Sein Lungenvolumen beträgt 15 Liter, dreimal so viel wie das eines durchschnittlichen Menschen. "Sobald ich unter Wasser bin, pumpe ich die Luft aus der Lunge in Nase, Nebenhöhlen und Mittelohr, weil der Druck alle zehn Meter um ein Bar zunimmt." Bei 214 Metern ist der Druck mit 22 Bar elfmal höher als in einem Autoreifen. Mit drei Metern pro Sekunde rast Nitsch in die Tiefe. Ab 50 Metern, erzählt der Taucher, mache sich der Tiefenrausch langsam bemerkbar. Der Druck steigt, sein Lungenvolumen wird immer kleiner, bis es letztlich die Größe eines Tennisballs erreicht. Mit zunehmender Tiefe weicht immer mehr Blut aus seinen Gliedmaßen. Sein Körper ist totenblass. Reflexartig zieht sich das Blut dorthin zurück, wo es die lebensnotwendigen Funktionen mit Sauerstoff versorgen muss: in Lunge, Herz und Gehirn. In den übrigen Regionen seines Körpers ist Nitsch sprichwörtlich blutleer. Er trägt eine kleine Spezialbrille. "Der hohe Druck würde mir die Augen aus dem Kopf saugen." Aufgrund des sich lösenden Stickstoffs im Blut kommt Nitsch "wie ein Betrunkener" an seinem Zwischenziel an. Abläufe, die zuvor nicht automatisiert wurden, sind jetzt kaum zu bewältigen. "Das ist, als würde ein Betrunkener versuchen, Auto zu fahren. Einfachste Additionen sind jetzt nicht mehr möglich." Allein das Lösen des Gewichts, das ihn in die Tiefe zog, funktioniert.
Nach etwas mehr als zwei Minuten und 214 zurückgelegten Tiefenmetern hat Nitsch sein Ziel aber noch lange nicht erreicht: "Der Weg nach oben stellt das eigentliche Problem dar, der Sauerstoff geht am Ende und nicht auf halbem Weg aus." Würde der Taucher jetzt nicht an einem Seil hochgezogen, er fände den Weg zurück nicht. Orientierung ist in der Dunkelheit und aufgrund seiner Verfassung unmöglich. Mithilfe eines Carbonhelms geht's zurück an die Oberfläche. Im Gegensatz zu vielen anderen Tauchern verwendet Nitsch einen Helm und keinen Ballon. Der Helm ermöglicht es, beim Auftauchen drei Meter pro Sekunde zurückzulegen und nicht länger als nötig auf 214 Metern Tiefe zu bleiben. Drei zusätzliche, alternative Systeme sollen ein sicheres Auftauchen garantieren. Der Helm ist eine Spezialanfertigung eines Griechen, den Nitsch erst vor einem Jahr kennen gelernt hat. Lange genug, um ihm sein Leben anzuvertrauen. "Er ist ein Tüftler, genau wie ich." Sonst verlässt sich Nitsch auf niemanden als auf sich selbst. Auf seinem Tauchgang wird er von keinen Sicherheitstauchern begleitet. "Zu gefährlich", sagt Nitsch, "nicht für mich, sondern für die Taucher".
Kurz unter der Meeresoberfläche legt Nitsch noch einen einminütigen, letzten Stopp ein. Eine Zeitspanne, die ihm in seinem Rausch ewig vorkommt. Nach vier Minuten und zwanzig Sekunden kommt er endlich an der Wasseroberfläche an, holt tief Luft, reißt sich Nasenklemme und Brille vom Kopf und formt Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis. Die Geste bedeutet: "Ich bin okay." "In diesem Zustand ist das gar nicht so einfach. Das muss innerhalb von 15 Sekunden passieren, sonst ist der Versuch ungültig." Nitsch erzählt, wie sein Vater an diesem 14. Juni 2007 zu ihm ins Wasser springt und ihn umarmt. Doch viel Zeit bleibt nicht. Nitsch nimmt eine Flasche reinen Sauerstoff und taucht für eine Viertelstunde auf zehn Meter Tiefe, um den Stickstoff im Blut ausperlen zu lassen - um wieder "nüchtern" zu werden.
Bereits als Kind verbrachte Nitsch viel Zeit mit seinem Vater am Meer. "Urlaub und Blau gehören für mich seit jeher zusammen." Auch Tauchen und Fotografieren unter Wasser schätzte er schon lange. Unter anderem wurde Nitsch deshalb Pilot, damit die Abstände zwischen den Tauchgängen nicht allzu groß würden. So kann er von Insel zu Insel reisen, kann Arbeit und Sport verbinden. Dass er aber länger als andere unter Wasser bleiben kann, wurde ihm erst vor gut zehn Jahren, während eines Tauchurlaubs am Roten Meer, bewusst. Die Fluggesellschaft hatte seine Tauchausrüstung verloren, Nitsch ging kurzerhand ohne Equipment ins Wasser. Beim Fotografieren müsse man halt ein bisserl warten, erklärt Nitsch lapidar. Kamera einstellen, Foto machen, "ein zweites Foto geht noch", warten, bis sich der Blitz auflädt, und ein zweites Foto schießen. Am Ende der Urlaubswoche tauchte er ganz selbstverständlich auf dreißig Meter. Ohne Sauerstoffflasche. "Zurück in Österreich habe ich erfahren, dass der österreichische Rekord bei 34 Metern lag. Also kaufte ich mir ordentliche Flossen und stellte einen neuen Rekord auf."
Für die meisten Menschen, allen voran für Nitschs Eltern, ist es schwer zu verstehen, weshalb sich Nitsch solchen Gefahren aussetzt. Er nennt Gefahren "Risiken", die es auf dem Weg zu neuen Rekorden immer wieder neu zu "kalkulieren" gelte, und bestreitet, dass die "kalkulierten Risiken" zur Sucht geworden sind. "Ich schätze die Tatsache, dass sich unser Leben meist an der Erdoberfläche abspielt und ich als Einziger unter dieser Oberfläche bin", sagt er. "So, als wäre die Welt eine Scheibe: Alle sind oben, nur ich bin unten."
Nitsch treibt aber auch der Wettkampfgedanke. Mit einer beängstigenden Geschwindigkeit hat er das Feld in den vergangenen Jahren aufgerollt. Von seinen Konkurrenten wird er auch "Roboter" genannt, aber eher "der sowjetische Typ". Nitsch taucht in einer anderen Liga. Zuletzt starb der Franzose Luc Leferme im April 2007 bei dem Versuch, den Tieftaucher aus Österreich zu schlagen. Freunde Lefermes wissen, dass die Schnelligkeit, mit der Nitsch Maßstäbe setzte, beängstigend auf den Franzosen wirkte. Beängstigend und gleichzeitig faszinierend. Nitsch befand sich mitten in der Vorbereitung für seinen Weltrekordversuch im Juni, als er per SMS vom Tod des Franzosen erfuhr. "Ich war schockiert." Er kannte Leferme und beschreibt ihn als sehr "sympathischen Menschen, der auch sehr vernünftig gehandelt hat". So vernünftig Tauchen in solchen Tiefen eben sein kann. "So grotesk es klingt: Ich war erleichtert, als ich erfahren habe, dass der Unfall technischen Ursprungs war." Aber Leferme war nicht der Einzige. Außer Nitsch und dem Franzosen tauchten schon vier andere Menschen "ohne Atem" tiefer als 160 Meter. Unbeschadet überlebt hat außer Nitsch nur die Amerikanerin Tania Streeter. Der Venezolaner Carlos Costa sitzt im Rollstuhl, die beiden anderen sind tot. Nitsch scheint Tragödien auszublenden: "Die haben das halt anders gemacht."
Wilhelm Welslau ist Taucharzt in Wien. Er arbeitete lange mit Nitsch zusammen, vor einigen Jahren beendete er die Zusammenarbeit, wollte die Verantwortung nicht weiter mittragen. Welslau sagt, dass es praktisch unmöglich sei, zu wissen, wie der Körper eines Apnoetauchers in diesen Tiefen reagiert. "Es gibt keine Erfahrungswerte. Gewiss gab es die auch nicht, als der erste Mensch am Mond war, aber beim No-Limit-Tauchen sehe ich die Sinnhaftigkeit dahinter nicht." Jeder Versuch könne aus Gründen scheitern, die wir heute noch nicht kennen. "Das ist russisches Roulette." Im Falle von Nitsch fürchtet er: "Das geht so lange, bis er nicht mehr hochkommt." Auch sein Kollege Paul Haber, Sportmediziner am Wiener AKH, ist skeptisch: "Andere Leute müssten in solch einer Tiefe bereits einen Panzeranzug tragen, um dem Druck standzuhalten. Ich sehe die Gefahr, dass die Rippen brechen oder dass der enorme Unterdruck für die Lunge zu groß wird. Jeder Versuch könnte tödlich enden."
Der Weltrekordtaucher sieht das naturgemäß anders: "Könnte ich das Risiko nicht kalkulieren, würde ich es auch nicht eingehen." Günter Amesberger, Sportpsychologe und ÖFB-Mentalcoach, hält vom Begriff des "kalkulierten Risikos" nicht viel: "Risiko ist nur schwer quantifizierbar. Das bedeutet bestenfalls, dass er bereit ist, dieses Risiko zu tragen." Aber Nitsch kalkuliert weiterhin. Nächstes Jahr will er seinen Rekord noch einmal überbieten. Wo und wann, ist noch ungewiss. Das Ziel: die 1000-Fuß-Marke, 304 Meter unterhalb des Meeresspiegels. Ohne Atem.