2009/11/24

Fozzy´s Tour












Die FPÖ hat den Wiener Wahlkampf eröffnet und fährt mit einem blauen Bus durch den Gemeindebau. Franz Haas sitzt am Steuer. Was treibt ihn an?

Porträt für Falter

Fozzy will Bezirksvorsteher von Meidling werden. Nicht jetzt, aber vielleicht in fünf Jahren, wenn Heinz-Christian Strache als Bürgermeister Wien regiert. Fozzy weiß, dass es so kommen wird. Er kennt die Leute in der Stadt, glaubt zu wissen, worüber sie reden und worunter sie leiden. Fozzy, bürgerlicher Name Franz Haas, ist Bezirksrat der FPÖ in Meidling und Frontsoldat der FPÖ. Seit einigen Monaten steuert er den blauen Gemeindebaubus durch die Bezirke. Der Bus ist in jenem Blau gehalten, mit dem Barack Obama im Präsidentschaftswahlkampf für Hoffnung warb. Seit Wochen kurvt er durch die Bastionen der Roten. In Innenhöfen der Gemeindebauten klappt er Infostände und dunkelblaue Sonnenschirme auf, verteilt Flugblätter, Feuerzeuge und Kugelschreiber. Er führt Gespräche und macht Notizen.

Fozzy hört abenteuerliche Geschichten Von geschächteten Tieren in den Waschküchen und gebratenen Hammeln auf den Balkonen der Gemeindebauten. Nach einem Monat auf Tour sagt er: „Die Leute fühlen sich von der SPÖ verraten.“ So wie er selbst.

Die Zeit, als Bürgermeister Michael Häupl solche Funktionäre belächelte, ist längst vorbei. Heute fürchten die Roten die Fozzys, ihre Busse und die Notizblöcke. Denn die Sozialdemokraten haben bundesweit fünf Wahlen in Folge verloren. Häupl hat daher längst die eigenen Funktionäre auf die Reise geschickt, integrationspolitische Schwerpunkte gesetzt, den Gratiskindergarten eingeführt und eine Volksbefragung angekündigt. Den Wienern will er ihre Hausmeister zurückgeben – als Ansprechpartner für die Unzufriedenen. Schließlich droht Strache ein Jahr vor der Wienwahl, an Erfolge der Haider-FPÖ aus den 90er Jahren anzuschließen. Damals erhielten die Wiener Blauen knapp 28 Prozent der Stimmen. Vor allem in den Arbeiterhochburgen liefen Genossen scharenweise über. Zuletzt waren sie 2005 auf 14,8 Prozent gefallen. Damals lag die FPÖ nach ihrem Sonderparteitag in Knittelfeld und der Abspaltung des BZÖ am Boden. In der Opposition scheint die Partei nun aber langsam zu alter Stärke zurückzufinden – im Bund und in den Ländern. Es sind die Stimmen der Arbeiter, der Geringverdiener, der Pensionisten und sogar mancher Zuwanderer, die Strache gewinnt. Aber nicht nur.

Auch die Fozzys wählen Strache Jene Mittelschicht, die von den Vorzügen des roten Wien profitiert hat. Aufsteiger, die sich vor dem Aufstieg anderer fürchten. Fozzy, der 43-jährige Grafiker mit Genossenschaftswohnung in Meidling und Chevrolet Camaro in der Garage, ist also mehr als nur ein blauer Funktionär. Der Mann mit Pferdeschwanz hat mit rechten Parolen auf den ersten Blick nicht viel zu tun. Er verkörpert ein anderes Phänomen, das den Roten Kopfzerbrechen bereitet. Denn sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Angst der Mittelschicht just in Bezirken wie Floridsdorf besonders groß zu sein scheint, also in Gegenden, die von starker Einwanderung bislang verschont blieben. Was treibt Leute wie Fozzy also an?

Wieso würde ihn nichts mehr freuen als die Niederlage der Wiener Sozialdemokraten? Es ist Donnerstag, und Fozzy steht am Rande der vor wenigen Jahren fertiggestellten Kabelwerksiedlung im zwölften Bezirk. Den blauen FPÖ-Anorak hat er abgelegt. Er trägt ein blau-weiß gestreiftes Hemd mit gestärktem Kragen, darüber eine Lederjacke. Die Sonnenbrille hat er selbst dann im Haar, als es auf den Straßen längst dunkel geworden ist. Er zeigt Richtung Westen, hinüber zu den alten Reihenhäusern, die noch grau in grau aufgefädelt vor ihm liegen. Sie zeugen von vergangenen Zeiten. Lange wohnten hier die Arbeiter der Kabel- und Drahtwerke AG, ehe das Unternehmen in den 90er-Jahren an Siemens verkauft und der Standort aufgelassen wurde. Das Kabelwerk war 100 Jahre lang einer der bedeutendsten Betriebe Meidlings und wichtigster Arbeitgeber des Bezirks. „Früher“, sagt er, „haben hier alle SPÖ gewählt. Diese Zeiten sind vorbei.“

Dort, wo sich die Werke einst befanden, stehen heute eine moderne Siedlung mit geförderten Wohnungen für Jungfamilien, ein Kulturzentrum und ein Studentenheim mit Swimmingpool auf dem Dach. Alles hier wirkt neu und sauber. Die Arbeiter von einst sind jungen Angestellten gewichen. In den Erdgeschossen der Häuser reihen sich Geschäfte, Hundesalon, Trafiken und kleine Restaurants aneinander. Auch Fozzy lebt seit zweieinhalb Jahren hier, in jenem Teil des Areals, den die Bewohner wegen der vielen bunten Blöcke „Mickymaussiedlung“ nennen. Mit dem grauen Einerlei der Gemeindebauten hat diese Wohngegend nichts gemein.

Fozzy ist dennoch wütend. Er führt durch die Kabelwerksiedlung wie ein Bürgermeister durch seine Stadt. Er sei der Kabelwerkbeauftragte seiner Partei, sagt er. Viele Anrainer kennen ihn. Das hat einen Grund: Kaum war der letzte Mietvertrag vor zweieinhalb Jahren unterschrieben, „tauchten über Nacht 140 Schwarzafrikaner im Studentenheim auf“. Kurze Zeit später kamen 200 türkischstämmige Studenten hinzu. Der blaue Bezirksrat hatte damals heftig gegen die „Afrikaner- und Türkenbelagerung“ mobil gemacht, und auch die Kronen Zeitung berichtete über die Asylanten des Flüchtlingsvereins Ute Bock, die die „Luxusappartements“ in Beschlag genommen hätten. „Das muss man sich vorstellen“, ärgert sich Fozzy noch heute, „140 Asylanten im Swimmingpool mit Ausblick über das Wiener Becken bis hin zum Schneeberg.“

Drogendealer, Einbrecher, Vandalen – sie alle hätten in dieser Oase Einzug gehalten. ORF-Moderatorin Barbara Stöckl kam, um zu vermitteln. Die Sendung wurde in der Kabelwerksiedlung aufgezeichnet. Gesendet wurde das Material jedoch nie. Fozzy sagt, seine Leute hätten Stimmung gemacht. SPÖ-Integrationssprecher Omar al Rawi meint, die Blauen seien bei der Diskussion völlig untergegangen. So oder so, zweieinhalb Jahre später leben nur noch 40 Schwarzafrikaner in dem Studentenheim. Die Situation hat sich beruhigt. Fozzy könnte zufrieden sein. Doch er ist es nicht.

„Die Funktionäre an der Basis sind motiviert“, sagt FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl angesichts der vielen Fozzys in den Bezirken. Er sitzt im freiheitlichen Parlamentsklub an der Wiener Ringstraße. Kickl führt die Funktionäre in die von ihm ausgerufene und choreografierte Schlacht um Wien. Fozzy nennt ihn „das Hirn von Strache“, den zentralen Strategen der Partei. Immer wieder blickt er auf seinen Pulsmesser am rechten Handgelenk. „Wir müssen mit unseren Kräften haushalten“, sagt der frühere Redenschreiber Jörg Haiders und nunmehrige Wahlsloganschöpfer der Bundes-FPÖ. Sprüche wie „Pummerin statt Muezzin“ oder das Plakat „Daham statt Islam“ gehen auf sein Konto.

Kickl ist erneut dabei, den Wahlkampf minutiös zu planen und vorzubereiten. Die Strategie sei weitestgehend ausgearbeitet. Anfang Jänner soll eine Zentrale in der Bartensteingasse bezogen werden. Ein Team, bestehend aus Bundesgeschäftsführer Hans Weixelbaum, Harald Vilimsky, Landesparteisekretär Hans-Jörg Jenewein und Kickl selbst, wird dann versuchen, die SPÖ vor sich herzutreiben.

Wird es Überraschungen geben? Wird Strache wie im EU-Wahlkampf wieder ein Kreuz in die Menge halten, um gegen die Islamisierung zu punkten? Oder wird er, so wie Susanne Winter in Graz, die Muslime verhöhnen?

„Um eine Klinge scharf zu halten, muss man sie hin und wieder wetzen“, sagt Kickl. Doch auch er weiß, dass die radikalsten Wahlkämpfe nicht immer die fettesten Gewinne bringen, zumal dann, wenn die Sozialdemokraten, wie bei der letzten Wiener Wahl, hart zurückschießen. Zu viel Extremismus, das wissen auch die Blauen, mobilisiert das rote Lager.

„Die Inhalte bleiben dieselben“, sagt daher ein blauer Funktionär, „aber der Ton wird moderater. Wenn wir Strache plakatieren, weiß mittlerweile sowieso jeder, was gemeint ist.“ Die FPÖ wolle ein breiteres Wählerpotenzial ansprechen und die SPÖ in ihrer Kernkompetenz, der Sozialpolitik, beschneiden. Nicht nur die Modernisierungsverlierer will man erreichen, sondern auch die Mittelschicht, die ihren Wohlstand durch „Türken und Schwarzafrikaner“ bedroht sieht.

Als Fozzy sein Stammbeisl, das Cup & Cini, an diesem Abend betritt, rufen ihn die Leute an der Bar sofort zu sich. Es ist ein kleines, sauberes Lokal. Der Nichtraucherbereich ist verwaist. Die wenigen Gäste drängen sich an den Tresen. „Das ist meine kleine blaue Hochburg“, sagt er voller Stolz. Die meisten würden seinetwegen freiheitlich wählen. Das gelte für die Kellnerin aus China, für den Geschäftsführer aus dem Iran und den serbischen Stammgast. Er begrüßt sie alle und andere mehr, klopft ihnen auf die Schulter, bringt sie zum Lachen.

„Ich bin kein Ausländerfeind“, beteuert Fozzy. Auch drüben in der Mickymaussiedlung würde er sein Stockwerk mit Bosniern, Albanern und Asiaten teilen. Das funktioniere einwandfrei, versichert er. Probleme würden nur „die Türken“ in den Gemeindebauten machen. „Die Präpotenz der Türken ist ein Wahnsinn.“ Nur sie würden ihre Flaggen aus dem Fenster hängen. Nur Türken würden „uns“ verachten. „Und warum? Weil wir Schweinefleischesser sind.“

Die Schwarzen am Pool und die Türken mit den falschen Flaggen am Fenster – sie sind es, die Fozzy fürchtet. Oft spricht er von denselben Problemen, die auch rote Funktionäre hinter vorgehaltener Hand ins Treffen führen – von Leuten, die sich die Rezeptgebühren nicht mehr leisten können, von unbezahlten Überstunden und Spannungen im Gemeindebau – doch für all diese Probleme kennt der 43-Jährige nur eine Lösung: „Österreicher zuerst.“

Zuerst, sagt Fozzy, sollen „alle Österreicher“ eine Wohnung bekommen. Sie sollen sich die Heizung leisten können und genug zu essen auf ihren Tellern haben, bevor „Gutmenschen wie Frau Bock Asylanten eine Wohnung geben können“. Für die SPÖ könnte es schwer werden, wenn sie ihren Funktionären keine ähnlich einfache Antwort mit auf ihre Bustour geben kann.

Noch bis Mitte Dezember wird er mit seinem Bus durch die Gemeindebauten touren, den Leuten zuhören und sein „Österreicher zuerst“-Rezept aufkochen. Wo er sich in fünf Jahren sieht? Er wolle Bezirksvorsteher werden, wiederholt er. Als Erstes würde er das stillgelegte Meidlinger Tröpferlbad wiederbeleben. Dann das Gleisdreieck nahe der Kabelwerksiedlung bewalden. Und wenn das getan ist, sagt Fozzy zum Abschied, „würde ich Frau Bock in unserem Bezirk das Handwerk legen“.

Zum Thema

Meidling

Seit zwei Jahren ist Haas einer von neun blauen Bezirksvertretern in Meidling. Der zwölfte Bezirk hat 86.000 Einwohner und einen Ausländeranteil von 21,6 Prozent.

Als Arbeiterbezirk ist Meidling eine klassische SPÖ-Hochburg. In den 90ern überholten die Blauen die ÖVP und brachen die absolute Mehrheit der Roten. Bei den Gemeinderatswahlen 2005 war die FPÖ wieder deutlich schwächer, konnte den zweiten Platz jedoch halten

Pressekolumne

Wie gedruckt


Kritischer Journalismus schön und gut, aber auch das gehört einmal gesagt: Immer nur Politiker dögeln ist nicht fein. Einen Monat vor Weihnachten startet der News-Verlag daher eine Politikerwohlfühlkampagne. News schreibt „So k.o. sind Pröll und Co“ und zeigt einen Vizekanzler, der sich nach dem Ministerrat zu übergeben scheint. Termin- und Medienterror, dazu Feinde im Überfluss. „Wirklich offen sprechen nur Ehemalige.“ Und da Landeshauptmann Erwin Pröll noch aktiv ist, spricht Gattin Sissi über ihren „gottbegnadeten“ Erwin: „Wenn er zuhause ist, spürt man keinen Stress.“ Einen offenen Umgang mit dem Thema pflegt Politrentner Josef Kalina (SPÖ). Er spricht von Existenzangst und Dauerkritik. Und wozu? Aufmerksamkeit, sagt Kalina. „Was macht mehr Spaß als das Gefühl: Ich bin ein Star?“ Das hat auch profil-Chef Christian Rainer erkannt: „All das Leiden eines Politikers (oder Chefredakteurs?) also nur fürs Wichtigsein, für Applaus, Schlagzeile und Seitenblicke? In den meisten Fällen ist es so.“

2009/11/20

ein kleines dickes meerschwein outet sich











ich prangere mich an.











name: martin gantner

beruf: falter-journalist

mein vergehen
:
eine kurzmeldung über die verleihung des wolfgang-lorenz-gedenkpreises, bei der kollegin ingrid brodnig in der jury vertreten war (s.u.)

meine geschichte mit dem bislang stärksten feedback:
eine kurzmeldung über die verleihung des wolfgang-lorenz-gedenkpreises, bei der kollegin ingrid brodnig in der jury vertreten war (s.u.)

noch nie war der nachhall auf meine arbeit so groß. knapp gefolgt von einem artikel über pornographie - erschienen im internet! (porno, na und?)

alter: 28

meine texte entstehen: am computer.

ich recherchiere mit
: telefon, computer, bücher, recherche vor ort

meine diplomarbeit habe ich geschrieben über:
vier öffentlich-rechtliche online-medien zwischen theoretischer verheißung und profaner realität - ein empirischer und systemtheoretischer vergleich.

geplantes zusatzkapitel zu meiner arbeit:
wie protagonisten der online-community printmedien zur ironiefreien zone erklärt haben

warum ich diesen eintrag schreibe
:
blogeinträge von martin blumenau und digiom ("...wer solche meldungen verfasst ((also ich)), ist vermutlich nur neidisch oder hat angst vor ihrer ((also ingrid brodnigs)) konkurrenz. und gerade frauen, erst recht junge frauen, werden ja gerne in in dieser weise gedisst. shame on them, whoever they are!)

eine meiner lieblingskolleginnen beim falter heißt: ingrid brodnig

der vollständigkeit halber:

stell ich meine heftig umstrittene, bierernste arbeit online

falter 47/s4 "Ingrid Brodnig saß vergangene Woche in der Jury des Wolfgang-Lorenz-Gedächtnispreises. ORF-Programmdirektor Lorenz hatte seinerzeit das 'Scheiß-Internet' verdammt. Mit letzter Kraft verhinderte Brodnig, dass Falter-Chefredakteur Armin Thurhher abgepreist wurde. Statt seiner bekamen die Wiener Grünen den Award."

2009/10/25

Hier wurde Jörg Haider geoutet






Bild-Chefredakteur Kai Diekmann erklärt, warum. Ein Gespräch über Sitten und Moral von Europas größter Tageszeitung


für falter


Nach zwölf E-Mails, mehreren Telefonaten und zwei Falter-Belegexemplaren, die per Post in die deutsche Bundeshauptstadt geschickt wurden, kam Anfang September die Nachricht von Pressesprecher Tobias Fröhlich: „Kai Diekmann macht gerne mit.“ Die Rudi-Dutschke-Straße und die Redaktion der linken taz sind nur einen Steinwurf entfernt. Dort, wo noch vor 20 Jahren die Mauer durch Berlin verlief, ragt das Gebäude des Axel-Springer-Verlags und der Bild-Zeitung 19 Stockwerke in den Himmel. Besucher werden durch Metalldetektoren geschleust – „wegen der Anschläge vom 11. September“, erklärt die Empfangsdame entschuldigend. Sie führt durch ein Drehkreuz zu den Aufzügen. Im 16. Stock wartet Kai Diekmann, Chefredakteur der größten Tageszeitung Europas. Während des Gesprächs helfen Büroleiter und Pressesprecher, wenn Diekmann Details vergisst.

Falter: In Österreich gehen gerade die Wogen hoch, weil Sie in der Bild-Zeitung kurz vor dem ersten Todestag von Jörg Haider dessen angeblichen Liebhaber geoutet haben. Liegen die Anklageschriften schon auf Ihrem Schreibtisch?

Kai Diekmann: Nein. Lediglich eine einstweilige Verfügung. Die prüfen wir gerade.

Was rechtfertigte die Enthüllung zum jetzigen Zeitpunkt? Gerüchte über die angebliche Bisexualität Jörg Haiders gab es schließlich schon lange.

Diekmann: Um den Tod Jörg Haiders wie um seine letzten Stunden gab und gibt es etliche Verschwörungstheorien. Unsere Reporter waren in der Woche vor dem Jahrestag des Unfalls in Österreich. Sie wollten klären, wo Haider in den Stunden vor seinem Tod war und was genau er gemacht hat, weil diese Informationen bisher nur lückenhaft vorlagen. Das ist die ganze Geschichte.

Österreichische Medien gingen bislang auf diese Spekulationen nicht ein, weil sich Haider zeitlebens nie öffentlich abschätzig zum Thema Homo- oder Bisexualität geäußert hat. Wie legitim ist die Enthüllung also?

Diekmann: Journalisten, besonders Boulevardjournalisten müssen solche Themen aufgreifen – auch wenn wir dabei Tabus anfassen. Sonst hätten wir unseren Beruf verfehlt. Was Journalismus letztlich darf und was nicht, ist eine Frage der ständigen Diskussion in der Gesellschaft. Im Übrigen hat Haider sein Privatleben immer wieder selbst zur Schau gestellt und für politische Zwecke genutzt – zumindest den Teil, der ihm lieb war. Dann allerdings haben die Menschen ein Recht darauf, auch die andere Seite Haiders kennenzulernen.

René N., der angebliche Liebhaber Haiders, sagt, noch vor einem Jahr hätten ihm die Medien horrende Summen für das Outing geboten. Ist für sein Liebesbekenntnis Geld geflossen?

Diekmann: Wir haben für diese Geschichte nichts gezahlt.

Prominente beklagen, dass sie die Macht der Bild oft zu spüren bekommen. Nach dem Motto: „Rede mit uns, oder wir schreiben, was wir wollen.“

Diekmann: Das ist Quatsch. Was aber nicht sein kann, ist, dass sich Prominente nur dann in der Zeitung sehen wollen, wenn es ihnen gerade passt. Nehmen Sie das Beispiel Nadja Benaissa von der Band „No Angels“: Sie wurde aufgrund des Umgangs mit ihrer HIV-Infektion in einer Diskothek verhaftet. Das war Exklusivschlagzeile von Bild. Frau Benaissa und ihr Anwalt haben sich anschließend heftig dagegen gewehrt, wegen angeblicher Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte und Intimsphäre. Jetzt hat sie sich allerdings gerade in der Bild am Sonntag mit einem sehr freizügigen Foto präsentiert und über Seiten detailliert darüber geäußert, wie das mit der Verhaftung und ihrer Erkrankung genau war – inklusive aller intimen Details. Ich unterstelle natürlich überhaupt nicht, dass das etwas mit ihrem neuen Album zu tun hat, das gerade herausgekommen ist.

Und die Moderatorin Eva Hermann, die in Ihrer Zeitung als „dumme Kuh“ bezeichnet wurde?

Diekmann: Das hat Franz-Josef Wagner in seiner Kolumne „Post von Wagner“ so formuliert. Das ist die härteste Kolumne der Republik. Davon abgesehen: Wer als Prominenter in Talkshows sitzt, wie eben Eva Hermann zuvor, darf auch nicht zimperlich sein, wenn er anschließend öffentlich kritisiert wird.

Was bedeutet das Caroline-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Ihre Zeitung? Es gesteht Prominenten schließlich auch in der Öffentlichkeit das Recht zu, privat zu sein.

Diekmann: Dieses schiefe Urteil gibt Prominenten die Möglichkeit, Berichterstattung über sich steuern zu können. Damit haben wir die Situation, dass Künstler oder Politiker sich nur noch in der Presse sehen wollen, wenn sie mehr CDs verkaufen respektive Stimmen gewinnen wollen. Ich erwähnte das vorhin. Aber man muss Öffentlichkeit auch ertragen, wenn es einmal nicht so gut läuft. Sonst hat das nichts mehr mit Pressefreiheit zu tun, sondern eher mit Pressebenutzung.

Vielen Menschen wird diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung genommen. Auch Bild veröffentlichte eine frischverliebte Kampusch in der Diskothek.

Diekmann: Über die Abgrenzungen, die im Presserecht oder im Pressekodex definiert sind, wird es immer wieder Meinungsverschiedenheiten geben. Grundsätzlich dürfen wir über Opfer berichten und auch Fotos zeigen.

Wie gehen Sie mit Bild-Kritikern um?

Diekmann: Dass eine Zeitung, die uneingeschränkter Marktführer und laut und unbequem ist, schärfer beobachtet wird als jedes andere Medium, ist eine Selbstverständlichkeit. Wer so wenig zimperlich im Austeilen ist wie wir, der muss auch selber einstecken können. Aber eine Bild-Zeitung, an der man sich nicht mehr reibt, wäre nicht erfolgreich. Wir müssen polarisieren. Bei uns gibt es keine Kommentare, die „sowohl als auch“ vertreten. Wir wollen zur Auseinandersetzung zwingen.

Was reizt Sie persönlich an Bild?

Diekmann: Vor allem die unglaubliche Vielseitigkeit. Die Zeitung erlaubt alle journalistischen Darstellungsformen. Wir können gleichzeitig Illustrierte und knallige Boulevardzeitung sein. Wir können auch 500-Zeilen-Texte drucken, wenn wir glauben, dass sie relevant sind – egal, ob das Testament von Johannes Paul II. oder das erste Interview mit der frisch gewählten Kanzlerin. Wir können FAZ, Süddeutsche, Stern, Spiegel und Bild in einem sein, und das ist großartig.

Die Schlagzeilen der Bild sind legendär. Wie entstehen „Wir sind Papst“ oder „Als Kassenpatient bist du der letzte Arsch“?

Diekmann: Unser Kreativprozess ist straff organisiert. In einer Reihe von Konferenzen werden die Themen des Tages diskutiert, jedes Mal sind auch Kollegen aus den verschiedenen Teilen Deutschlands live zugeschaltet. Jede einzelne Seite wird von Hand gestaltet, und gemeinsam werden Schlagzeilen getextet.

Der Kronen Zeitung wird oft vorgeworfen, politisch zu agitieren. Politiker werden zum Kanzler hochgeschrieben. Wie sieht Ihre Mission aus?

Diekmann: Wir haben keine politische Mission. Am Tag vor der Wahl titelten wir: „So wählt Bild. Heute verraten wir’s.“ 100 Redakteure gaben in einem großen Artikel Auskunft darüber, wem sie ihre Stimmen geben würden. So gut wie alle Parteien waren vertreten.

Auch die Linke?

Diekmann: Nein, die nicht. Genauso wenig wie die ganz Rechten. Das halte ich aber nicht für eine Mission, sondern für ein Zeichen der geistigen Reife meiner Redaktion.

Sie bezeichneten Bild aber als „gedruckte Barrikade der Straße“. Was meinen Sie damit?

Diekmann: Dass wir Kampagnen machen und auch einmal laut schreien, wenn Dinge ungerecht sind. Wenn etwa ein Pleitemanager 15 Millionen Euro Abfindung kassiert (Arcandor-Chef Karl-Gerhard Eick, Anm.), dann steigt Bild tatsächlich auf die Barrikaden. Und andere Medien wie die FAZ ziehen häufig nach.

Sie waren mehrere Male beim Papst, verstehen sich gut mit der Kanzlerin, Altkanzler Helmut Kohl ist Ihr Trauzeuge und Sie sind Trauzeuge von Kohl. Wie mächtig ist der Chefredakteur der größten europäischen Tageszeitung?

Diekmann: Macht hat etwas mit „Machen“ zu tun. Das bedeutet aber häufig vor allem Verantwortung. Im Zuge der Finanzkrise etwa gab es vor einem Jahr Agenturmeldungen, nach denen sich die Zahl der Bargeldabhebungen dramatisch vervielfacht hatte. Eine Schlagzeile „Wie lange reicht das Bargeld noch?“ wäre da durchaus legitim gewesen. Wir hatten auch die passenden Geschichten – zum Beispiel, wie ein Filialleiter verzweifelt versuchte, eine Rentnerin daran zu hindern, 500.000 Euro in der Handtasche mit nachhause zu nehmen. Oder einen Mittelständler, der mit einem Lieferwagen bei der Bank vorfuhr und zehn Millionen abhob. Wenn wir das gebracht hätten, wäre das Bargeld in Deutschland wahrscheinlich wirklich knapp geworden.

In Ihrem Buch „Der große Selbstbetrug“ lassen Sie kein gutes Haar an der Generation der 68er. Rächen Sie sich damit auch an einer Generation, die die sogenannte Springer-Presse immer am lautesten kritisiert hat?

Diekmann: Das war nur ein Teilaspekt des Buches und bei weitem nicht der wichtigste. Aber man hatte in Deutschland vor dem Fall der Mauer lange den Eindruck, dass uns die Freunde in Nicaragua und El Salvador näher sind als unsere Brüder und Schwestern im Osten Deutschlands. Die Teilung Deutschlands wurde von den 68ern als gerechte Strafe für den Zweiten Weltkrieg gedeutet. Da wurden 17 Millionen Ostdeutsche einfach abgeschrieben. Und wenn ich dann in Zeitungen lese, welche 68er angeblich schon immer für die deutsche Einheit eingetreten sind, dann ist das eine verlogene Doppelmoral, die mich ankotzt. Aber mit Rache hat das nichts zu tun. Es herrscht schließlich Konsens darüber, dass auch wir eine Vergangenheit haben und in der Auseinandersetzung, vor allem rund um 68, auf beiden Seiten Fehler gemacht wurden. Wir wollten kürzlich die wichtigsten Teile der damaligen Studentenbewegung einladen, um die Ereignisse von damals aufzuarbeiten. Diese Einladung wurde leider nicht angenommen.

Sie haben mehr als eine Million Bild-Bibeln unters Volk gebracht. Gleichzeitig erscheinen in Ihrer Zeitung sogenannte „Bumskontakte“ und die „Titelmieze“ auf Seite eins. Ist das nicht scheinheilig?

Diekmann: Bei uns herrscht eine strikte Trennung zwischen Anzeigen und Redaktion. Daher hat das eine mit dem anderen auch nichts zu tun. Und zum Titelmädchen: Nacktheit ist heute in unserer Hochkultur selbstverständlich. Im Film und Theater, im Feuilleton der Süddeutschen oder in der Sixtinischen Kapelle, ebenso wie in Bild. Das zu verurteilen, halte ich wirklich für Heuchelei.

Sie sagten dem Papst, es sei Ihnen ein Anliegen, die christliche Glaubensbotschaft zu verbreiten. Warum eigentlich?

Diekmann: Weil die Regeln, die für unser gesellschaftliches Zusammenleben gelten, ihre Wurzeln in der christlichen Lehre haben. Insofern ist es für mich selbstverständlich und spannend, auch solche Themen auf die Bühne des Boulevards zu stellen. Bei den Bibelausgaben ging es uns nie darum, Geld zu verdienen. Aber schon nach drei Wochen waren 250.000 Stück der ersten Volksbibel vergriffen.

Sie sind seit 2001 Chefredakteur. Das ist gemessen an Ihren Vorgängern eine lange Zeit. Worauf führen Sie das zurück?

Diekmann: Vielleicht hat es damit zu tun, dass es Bild publizistisch und wirtschaftlich noch nie so gut ging wie heute.

Die Auflage ist zuletzt aber deutlich zurückgegangen.

Diekmann: Wir hatten im vergangenen Jahr das beste wirtschaftliche Ergebnis aller Zeiten, und es könnte durchaus sein, dass wir das in diesem Jahr wiederholen. Wir haben heute die zweithöchste Reichweite und den höchsten Marktanteil unserer Geschichte. Und schauen Sie sich die rasante Entwicklung unseres Onlineportals an: 1,5 Milliarden Page-Impressions, mehr als 100 Millionen Visits und 5,5 Millionen Unique User. Die Nutzungszeit ist länger als bei Spiegel online. Das sind unglaubliche Werte. Wenn Krise so aussieht, dann kann sie ruhig noch andauern.

In Frankreich haben Sie’s versucht, in Polen auch geschafft. Wieso gibt es keine Bild in Österreich?

Diekmann: Bei allem Respekt: Der österreichische Markt ist einfach zu klein. Ich sehe auch die Nische in Österreich nicht. Bei Ihnen gibt es schon große Boulevardzeitungen.

Sehen Sie schon das Ende der gedruckten Bild-Zeitung kommen?

Diekmann: Nein. Papier hat schließlich ungeheure Vorteile: Es strukturiert und gewichtet ein journalistisches Angebot und verlinkt nicht ins Unendliche. Wäre das Internet vor dem Papier erfunden worden, würde wahrscheinlich irgendwann jemand kommen und verkünden: Hört mal, ich hab einen ganz tollen Stoff erfunden. Der heißt Papier. Den kann man mit in die Badewanne und mit an den Strand nehmen.
nach ob

2009/09/29

Wo die Augen der Genossen glühen





Die Voest will nicht mehr politisch sein. Was die SPÖ von der ehemals verstaatlichten Industrie lernen kann

für Falter


Die Strapazen des Tages sind Hans-Karl Schaller deutlich anzusehen. Er steht an diesem Wahl´sSonntag inmitten verzweifelter SPÖ-Funktionäre im alten Linzer Rathaus. Gemeinsam ringen sie um Erklärungen. Sie spekulieren über eine noch ungewisse Zukunft, die für die Sozialdemokratische Partei immer mehr in der Vergangenheit zu liegen scheint. Die SPÖ durchlebt gerade eine ihrer schwersten Krisen nach 1945. Schaller weiß das.

Eine solche Niederlage schien dort, wo er herkommt, bis zuletzt undenkbar. Schaller ist Voestler – seit 26 Jahren. Bei den Betriebsratswahlen im Vorjahr erreichte seine Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG) noch astronomische Ergebnisse. Der ÖVP nahe stehende Arbeitnehmer spielten keine Rolle. Die Freiheitlichen (FA) bekamen nur zwei Mandate. Der Rest gehört den Roten.

Auch bei den Arbeiterkammerwahlen Anfang des Jahres konnten SP-Bastionen bei Voest oder Magna trotz Kurzarbeit und Krise gehalten werden. Seit Sonntag sind diese Erfolge aus roter Sicht jedoch deutlich weniger wert.„Was wir jetzt dringend benötigen? Eine Politik der glühenden Augen, eine Politik aus einem Guss“, sagt Schaller. Er redet lieber über Bildungs- oder Integrationspolitik als über die Voest. Er hat sich hochgearbeitet, vom einfachen Arbeiter aus der Instandhaltung zum politischen Funktionär – er war zuerst Vertrauensmann, später Betriebsrats-, schließlich Zentral- und Konzernbetriebsratsvorsitzender.

Seit Sonntag sitzt er auch im Landtag. In Wien verhandelt er Kollektivverträge, in der Voest Sozialpläne und immer dann, wenn es Probleme in anderen europäischen Standorten gibt, reist Schaller an. Die letzte Schweißnaht hat er vor 17 Jahren gezogen.

Viele Voestler dürften bei dieser Wahl der FPÖ oder auch der ÖVP ihre Stimme gegeben haben. Um das behaupten zu können, brauche er keine Wählerstromanalyse, sagt Schaller. In gewisser Weise haben also die 10.000 Beschäftigten der Voest die Wahl erneut entschieden. Wie schon bei den Wahlen vor sechs Jahren, als die SPÖ dank schwarz-blauer Privatisierungspläne noch knapp hinter der ÖVP landete. SP-Chef Erich Haider warnte damals vor dem „Ausverkauf der Voest“ an die „Russen“.

Nur wenig ist in Österreich so emotional besetzt wie der einstige Staatsbetrieb, glaubt Dieter Stiefel vom Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. „Drei Dinge haben das Selbstbild Österreichs nach 1945 geprägt: Neutralität, Sozialpartnerschaft und die verstaatlichte Industrie – mit ihr die Voest. Das war das neue Österreich.“ Die Voest habe lange als Nachweis für erfolgreiche, sozialistische Wirtschaftspolitik gegolten. Doch dann kamen die Misserfolge: jene der verstaatlichten Betriebe in den 80ern und die Stahlkrisen in den 90ern.

Heute ist vieles anders. Politiker haben seit Jahresbeginn Hausverbot bei „ihrer“ Voest. Dort, wo sich einst rote Parteichefs mit Helmen vor Hochöfen ablichten ließen, dürfen heute keine Wahlveranstaltungen mehr stattfinden. Man wolle nicht wieder Spielball der Politik sein, heißt es aus der Konzernzentrale.

Die Politik ist also draußen und die Voest seit 2005 vollständig privatisiert; 13 Prozent der Aktien gehören den Arbeitern. „Oft glaubst du, du bist an der Börse“, sagt Manfred Pühringer. Immer öfter würden Mitarbeiter in Arbeitspausen Aktienkurse im Intranet verfolgen. Pühringer ist einer von zwei freiheitlichen Betriebsräten. Der Wahlausgang hat ihn nicht überrascht.

In der Voest gelänge der SPÖ noch, was ihr abseits des fünf Quadratkilometer großen Betriebsgeländes auf Bundesebene schon lange nicht mehr gelingt. „Sie sind direkt bei den Arbeitern an der Basis.“ Er verweist auf Schaller, der unzählige Ämter innehabe, aber keine Zeit mehr für die Arbeiter im Betrieb finden könne.

„Unsinn“, sagt Schaller. Er ist letztlich aber ähnlicher Meinung wie Pühringer: „Immer vor Ort, immer präsent und nahe bei den Sorgen der Arbeiter – das ist der Grund für den Erfolg der FSG in der Voest.“ Und vielleicht einer der Gründe für rote Niederlagen in Bund- und Ländern.


bild flickr.com von magrolino

2009/09/23

Die Masse braucht Qualität






Der ORF sollte wenig Quote machen dürfen, sagt Wolfgang R. Langenbucher. Die Parlamentsenquete zum ORF ist vorbei, doch die eigentliche Arbeit steht noch bevor. Der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang R. Langenbucher über Visionen fürs Fernsehen und seinen Appell an die Politik.


Falter: Die Zukunft des ORF liegt wieder einmal in den Händen des österreichischen Nationalrats. Ist sie dort gut aufgehoben?

Wolfgang R. Langenbucher: Das wage ich zu bezweifeln. Aber ich glaube, dass jetzt für die Problematik des ORF in einer Weise Öffentlichkeit hergestellt wurde, die es der Politik nicht mehr erlaubt, so zynisch und machtorientiert mit dem Sender umzugehen, wie dies sonst möglich gewesen wäre.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass sich die Politik zu sehr mit Details beschäftigt und auf eine medienpolitische Vision vergisst?

Langenbucher: Es könnte natürlich sein, dass nur die von der Europäischen Kommission geforderten Punkte in die Novellierung des ORF-Gesetzes aufgenommen werden. Dabei wäre eine Vision dringend nötig. Es hat sich ja gezeigt, dass die Lernfähigkeit des ORF-Managements in Bezug auf die eigene Situation sehr stark unterentwickelt ist. Denn es ist klar, dass sich die öffentlich-rechtlichen Sender in ganz Europa in einer gnadenlosen Konkurrenzsituation befinden. Sender wie der ORF benötigen eine völlig neue Form der Legitimation. Diese kann nicht aus einem Quotenvergleich mit den Privaten geschöpft werden. Das ist der Fehler, den das Management der Öffentlich-Rechtlichen in ganz Europa über Jahrzehnte begangen hat. Das mag noch einige Jahre gut funktionieren, doch schon bald könnten dem ORF nicht nur Marktanteile, sondern auch die gesellschaftliche Legitimation abhanden kommen.

Der ORF sollte also das Privileg haben, wenig Quote machen zu müssen?

Langenbucher: Genau. In seiner eigentlichen Funktion muss er an anderen Zielgrößen gemessen werden.

Wie könnte die Vision also aussehen?

Langenbucher: Wir benötigen öffentlich-rechtliche Anstalten heute dringender denn je als Infrastruktur politischer Öffentlichkeit und kultureller Produktivität. So wie der Staat für Energie- oder Wasserversorgung sorgt, ist auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine notwendige Infrastruktur.

Wo sehen Sie die Parallelen zwischen Staatsoper, Burgtheater und ORF?

Langenbucher: Ohne eine Form der marktunabhängigen Finanzierung könnten bestimmte journalistische und medienkulturelle Produkte nicht weiter bestehen. Es gebe auch kein Burgtheater, wenn wir es nicht mit Steuern finanzieren würden – ganz unabhängig davon, ob jeder Steuerzahler auch ins Burgtheater geht oder nicht. Darum halte ich die Argumentation für brandgefährlich, dass Gebühren nur dann gerechtfertigt sein sollen, wenn ich auch Zuseher des Programms bin. Viel mehr bin ich Bürger, der unabhängig von der Nutzung ein Interesse daran haben muss, dass die Gesellschaft über eine gewisse kulturelle Ausstattung verfügt.

Sie wollen ein Ö1-Radio fürs Fernsehen?

Langenbucher: Ja, warum nicht?

Weil vielleicht ein Großteil der Bevölkerung, diesen Sender noch nie gehört hat.

Langenbucher: Dass Ö1 ein erfolgreiches, am Gemeinwohl orientiertes und kulturell sensibles Programm ist, steht aber außer Frage.

Würde der öffentliche Diskurs somit nicht zu einer elitären Veranstaltung?

Langenbucher: Nein. Erstens ist Fernsehen ein Massenmedium und Ö1 nicht elitär. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sämtliche Qualitätszeitungen Deutschlands gemeinsam eine Auflage, die nur halb so groß war wie jene der Süddeutschen Zeitung heute. Das heißt, wir bewegen uns bereits in einem Markt, in welchem Qualität auch ein Massenpublikum erreicht. Die Masse braucht Qualität.

Muss man sich dann nicht von der Vorstellung verabschieden, dass der ORF Öffentlichkeit noch in demselben Ausmaß herstellen kann wie noch vor einigen Jahren?

Langenbucher: Das hängt davon ab, ob man glaubt, dass eine gesellschaftliche Agora nur dann gegeben ist, wenn 100 Prozent der Gesellschaft an diesem Diskurs beteiligt sind. Aber in der Geschichte war es nie so, dass die gesamte Gesellschaft einen solchen Diskurs geführt hat. Zunächst ist es immer nur die geistige Elite eines Landes, die Teil dieses Diskurses ist.

Die Europäische Union fordert vom ORF mehr finanzielle Transparenz, um privaten Anbietern den Rücken zu stärken. Wie sehen Sie diese Forderung?

Langenbucher: Das Zentrale dabei ist, dass die EU nun einsieht, dass öffentlicher Rundfunk existieren muss und dass er in den unterschiedlichen Ländern auch unterschiedlich gestaltet werden kann.

War dies nicht immer so deutlich?

Langenbucher: Nein. Der öffentliche Rundfunk war in den letzten Jahren durch nichts mehr gefährdet als durch die EU. Erst das Amsterdamer Protokoll 1997 brachte ein Bekenntnis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der Irrtum bestand darin, dass man Rundfunk für ein Wirtschafts- und kein Kulturgut hielt. Wenn es nach der EU gegangen wäre, hätte das das Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bedeutet.

Zurück zum Nationalrat: Was müsste im neuen ORF-Gesetz stehen, das Ende des Jahres beschlossen werden soll?

Langenbucher: Es bedarf einer Fortschreibung und Modernisierung des Programmauftrags und strengerer Vorgaben für das Management. Außerdem müssen die Aufsichtsorgane kontrollfähig sein. Darüber hinaus muss man sich der Frage stellen, in welchen Bereichen der Markt versagt, um dort ein starkes Profil zu entwickeln.

Ist es nicht eine Illusion zu glauben, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk frei von parteipolitischem Einfluss stattfinden könnte?

Langenbucher: Jein. Politik schafft den Rundfunk zwar durch Gesetze. Aber es gibt ja so etwas wie demokratische Scham, wo auch Politiker vielleicht bereit sind, ihre unmittelbaren Interessen hintanzustellen und nicht nur an ihren Machteinfluss zu denken.

Sie appellieren also an die Vernunft in der Politik?

Langenbucher: Ja, an ihre kulturelle Sensibilität, ihre Einsicht und ihre Loyalität mit einer Gesellschaft, die demokratische Ansprüche hat.

Zur Person

Wolfgang R. Langenbucher ist einer der bedeutendsten Kommunikationswissenschaftler im deutschen Sprachraum. Bis Ende des Jahres 2006 war der gebürtige Deutsche Vorstand des Instituts für Publizistik in Wien. Langenbucher ist Sprecher der Initiative „Rettet den ORF“



bild flickr.com von jetset_kaputt

2009/09/16

Hier regiert der Hausverschtand







Das Vorzeigebundesland Vorarlberg ist in der österreichischen Realität angekommen. Ausländerhass und Arbeitslosigkeit nehmen zu


mit Julia Ortner für Falter


Es ist stickig heiß an diesem Montagabend im Hohenemser Pfarrhaus. Nach einer halben Stunde steht die Dame in der hinteren Reihe auf, um ein Fenster zu öffnen. Schwitzende Sitznachbarn danken es mit einem Nicken. Vorne steht Landeshauptmann Herbert Sausgruber am Rednerpult. Er spricht vom „Hausverstand“ und vom „erfolgreichen Vorarlberger Weg“, der nach der Wahl am 20. September fortgesetzt werden müsse.

Sausgruber hat sich so sehr in Fahrt geredet, wie es dem 63-jährigen ÖVP-Politiker eben möglich ist: Der „Hausverstand“ spricht langsam, in breitem alemannischem Dialekt, um Sachlichkeit bemüht. Anderswo werden mit solchen Reden Wahlen verloren, in Vorarlberg bescheren sie der ÖVP seit 1945 mit einer Ausnahme immer die absolute Mehrheit. Sausgruber streift an diesem Abend sämtliche Themen, meidet aber konsequent zwei Worte: Wirtschaftskrise und den Namen des Koalitionspartners, Dieter Egger. Denn beide, die Krise und der FPÖ-Politiker, rütteln am Selbstbild Vorarlbergs als prosperierendes und anständiges Bundesland.

Vor drei Wochen hätte niemand für möglich gehalten, dass ausgerechnet Hohenems die Landtagswahl entscheiden würde. Doch Egger hat mit seiner Aussage vom „Exiljuden aus Amerika“ die Karten neu gemischt. Gemeint war damit der Leiter des jüdischen Museums in Hohenems, Hanno Loewy, der es gewagt hatte, die fremdenfeindlichen Plakate der FPÖ zu kritisieren. Sausgruber hat daraufhin angekündigt, die Koalition mit den Blauen nicht mehr fortsetzen zu wollen – nach 35 Jahren.

Trotz freiheitlicher Regierungsbeteiligung war Vorarlberg immer ein Einwanderungsland. Die Zuwandererquote ist die zweithöchste nach der in Wien. Jeder Fünfte kommt aus einer Migrantenfamilie. Adnan Dincer ist einer von ihnen. Der Unternehmensberater lenkt seinen Mercedes durch den zähen Abendverkehr in der Bregenzer Innenstadt. Es ist der Fastenmonat Ramadan. In wenigen Minuten geht die Sonne unter, und Dincer darf wieder essen, trinken und, was viel wichtiger ist, eine Zigarette rauchen. „Die Reaktion Sausgrubers kommt um Jahre zu spät“, sagt er. Die Freiheitlichen in Vorarlberg waren nie jener liberale Ableger der Bundes-FPÖ, als der sie immer dargestellt wurden. Dincer ist mit fünf Jahren nach Vorarlberg gekommen. Einst war er Klassensprecher, heute sitzt er im Vorstand der Arbeiterkammer. Mit der eigenen Migrantenliste wurde er bei den AK-Wahlen Dritter – vor den Freiheitlichen und den Grünen.

Nun ist seine Partei Teil des Wahlbündnisses „Die Gsiberger“. Es ist eine schillernde Runde, die sich da zusammengefunden hat: Schwulenbewegung, Migranten und eine Truppe, die schon lange für die Legalisierung weicher Drogen kämpft. Sollte einer von ihnen den Sprung in den Landtag schaffen, muss er die Interessen aller vertreten. „Das könnte heikel werden“, gibt auch Dincer zu. Doch die Großparteien sollten erkennen, dass Migranten auch eine attraktive Wählerklientel sind.

Der „Vorarlberger Weg“, den Sausgruber am Rednerpult so eindringlich bemüht, ist eine Mischung aus liberaler Wirtschafts-, konservativer Familien- und grüner Energiepolitik. Vorarlberg ist bekannt für das Monopol des Vorarlberger Medienhauses, für die Bregenzer Festspiele, Passivhäuser und die Tatsache, das einzige Bundesland zu sein, das über kein Bordell verfügt – zumindest kein offiziell genehmigtes.

Das 700 Kilometer entfernte Wien ist für Vorarlberger vor allem ein „Kürzel für zentralistische Bürokratie, das uns gelegentlich beim Arbeiten stört“, sagt Sausgruber. Den Hohenemsern gefallen die Spitzen gegen das rote Wien. Der sonst so sanfte Landeshauptmann bekommt rasch „Temperatur“, wie er es nennt. Die heilige Kuh Föderalismus ist unantastbar. Denn die Legende besagt: Vorarlberg wäre nicht so schön und wirtschaftlich erfolgreich, hätte die ÖVP nicht jahrzehntelang den „eigenen Kurs“ verfolgt. Es ist das einzige Bundesland, das in der Landesverfassung als „selbständiger Staat“ beschrieben wird.

Der schwarze Absolutismus unterscheidet sich grundlegend von jenem im ebenfalls ÖVP-regierten Niederösterreich. Beherrscht dort Erwin Pröll das Land im Stil eines polternden Feudalherrn, regieren die alemannischen Landesfürsten von jeher mit leicht chauvinistischem Pragmatismus. Das untertänige Verhalten gegenüber Politikern scheint den Vorarlbergern wesensfremd. Diese Mentalität ist auch historisches Erbe der freien Bauern und Gewerbetreibenden. Am Sonntag könnte nun die absolute Mehrheit allerdings fallen – was nicht nur Sausgrubers Rücktritt bedeuten würde, sondern auch die erste Wahlniederlage für Bundesparteichef Josef Pröll in Wien. Damit wäre auch der fragile Frieden im schwarzen Haus in Gefahr.

Drei Jahreszahlen gehören in Vorarlberg zum Gemeingut eines jeden Schulkindes: 1919 wollten 80 Prozent der Bevölkerung den Anschluss an die Schweiz. 1964 schlugen die Vorarlberger bei der Fußacher-Schiffstaufe den damaligen Verkehrsminister Otto Probst in die Flucht, weil dieser ein neues Schiff auf den Namen des Sozialdemokraten „Karl Renner“ taufen lassen wollte und nicht – wie von Bevölkerung und Vorarlberger Nachrichten vorgesehen – auf den Namen „Vorarlberg“. Und im Jahr 1979 forderte eine Bürgerinitiative mehr Selbstständigkeit mit dem Slogan „Vorarlberg ist bahnbrechend“. Auch damals spielte das Medienhaus eine zentrale Rolle. Die einflussreichen VN prägten seit jeher die Meinungslandschaft im Westen. Ihre Kampagnenleitung spielte auch bei der Mobilisierung gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf eine wichtige Rolle – 90 Prozent der Vorarlberger stimmten gegen das Kraftwerk.

Doch Kampagnenjournalismus sei seine Sache nicht, beteuert Eugen Russ. „Die Schiffstaufe ist schon lange her.“ Der mächtige Verleger sitzt in einem nüchtern eingerichteten Büro in Schwarzach. „Es wurde einiges an Porzellan zerschlagen.“ Russ spricht von den Parolen der FPÖ, „ich fürchte, dass sie durchaus auch auf fruchtbaren Boden fallen werden“.

Russ hat es geschafft, die Kronen Zeitung in Vorarlberg zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen. Beinahe alles, was die Vorarlberger heute über Vorarlberg wissen, erfahren sie aus Produkten des Medienhauses. Einzig der ORF kann daneben bestehen. „Auch mir wäre der hohe Marktanteil wahrscheinlich suspekt“, sagt Russ. „Aber wir sind kein agitierendes oder missionierendes Medium.“

Auch in den USA sind 1497 von 1500 Tageszeitungen so wie die VN Monopole in ihrem jeweiligen Markt. „Schiffstaufe“ und „Pro Vorarlberg“ mögen der Vergangenheit angehören, die Regionalpolitiker wollen es sich mit Russ dennoch nicht verscherzen. „Wir werden vom Medienhaus absolut fair behandelt“, beteuert SPÖ-Chef Michael Ritsch. Er steht inmitten von Traktoren, überdimensional großen Badewannen und einem Stand der Mohrenbrauerei.

Gerade ist die Dornbirner Messe eröffnet worden. Allerdings nicht vom roten Bundeskanzler Werner Faymann, sondern vom schwarzen Landeshauptmann . Schon vor Monaten hatte die Messeleitung den Wunsch des Kanzlers abgelehnt, die Eröffnungsrede halten zu dürfen. „So was geht nur in Vorarlberg“, sagt Ritsch. Am Ende durfte der Kanzler drei Minuten lang Begrüßungsworte an die Besucher richten.

„Als ich Stadtrat in Bregenz wurde“, erzählt der SPÖ-Politiker, „hat die gute Gesellschaft plötzlich das Geschäft meiner Eltern gemieden.“ Jahrelang hätte die Landesregierung in dem Bastelbedarfsgeschäft den Christbaumschmuck für das Landhaus eingekauft. „Das war dann vorbei.“

Die ÖVP ist allgegenwärtig in dem Land westlich vom Arlberg: 88 von 96 Bürgermeistern stammen aus ihren Reihen. Die Region des Bregenzerwalds stellt mit 24 Gemeinden gleich viel Wahlberechtigte wie die Landeshauptstadt Bregenz. Alle werden von schwarzen Bürgermeistern geführt. In keiner einzigen dieser Gemeinden gibt es eine SPÖ-Ortsgruppe. Das Rote Kreuz ist ebenso schwarz wie die Arbeiterkammer. 20.000 schwarzen Parteimitgliedern stehen knapp 2000 rote Funktionäre gegenüber.

„Oppositionspolitik empfindet die ÖVP als lästiges Problem, einen Misstrauensantrag als Majestätsbeleidigung“, sagt Grünen-Chef Johannes Rauch. Der Grüne möchte in die Regierung. „100 Jahre Opposition sind genug. Es ist Zeit, was zu riskieren.“ Sausgruber würde von den wahren Problemen des Landes ablenken. Denn das Ländle kämpft mit der Krise wie die anderen Bundesländer auch. Die Arbeitslosigkeit ist im Vergleich zum Vorjahr um 45,5 Prozent auf 11.000 Arbeitslose gestiegen.

Vorzeige-Vorarlberger wie Hermann Kaufmann sehen seit langem ein ambivalentes Land. „Eigentlich müsste Vorarlberg erzkonservativ und rückschrittlich sein. Eine Partei und eine Zeitung dominieren alles“, sagt der Architekt aus dem Bregenzerwald. „Es ist eine schizophrene Situation, die zufällig auf die positive Seite gekippt ist, aber auch jederzeit auf die negative Seite kippen kann.“ Die Wahlen am Sonntag dürften zeigen, dass das Ländle inzwischen ein Bundesland ist wie die anderen acht auch. Ein Land, in dem der Verlust der absoluten Mehrheit wahrscheinlicher und fremdenfeindliche Politik der Marke Strache-FPÖ alltäglicher zu werden droht.

Vielleicht hat das auch der Landeshauptmann erkannt. Am Ende seiner Hohenemser Ansprache fleht er: „Wir müssen reden, reden, reden. Wenn 20.000 Funktionäre anfangen zu reden, geht ein Ruck durchs Land. Dann kann es sein, dass das Ergebnis noch schöner ist als beim letzten Mal.“ Oder weniger schlecht als befürchtet. F

Zum Thema

Landtagswahlen

waren in Vorarlberg bisher vor allem Festspiele für die ÖVP. Mit einer Ausnahme errangen die Schwarzen seit 1945 immer die absolute Mehrheit. Dennoch nahmen sie stets einen oder mehrere Partner mit in die Regierung. Bis 1974 waren das die Sozialdemokraten und die FPÖ-Vorgängerpartei VDU. Ab ´74 dann nur noch die VDU bzw. später die FPÖ. Das Land zählt 370.000 Einwohner und somit knapp vier Mal so viel Menschen wie im Wiener Bezirk Leopoldstadt wohnen. Jüngste Umfragen prophezeien den Freiheitlichen einen Erdrutschsieg und den Verlust der absoluten Mehrheit für die ÖVP.


bild flickr.com von portobeseno

2009/09/09

Sag mir, wo du wohnst …







...und ich sag dir, wann du stirbst. Im 15. Bezirk sterben die Menschen viereinhalb Jahre früher als im ersten. Was verrät das über Wien?

für Falter

Ernst Hruška lässt sich in seinen Sessel zurückfallen und zündet sich eine Zigarette an. Der letzte Patient des heutigen Tages hat seine Praxis im 15. Wiener Gemeindebezirk gerade verlassen. Hruška ist erschöpft. „In diesem Sommer ist die Hölle los. Genauso wie in einem Winterquartal.“ Mit der Schweinegrippe hat das aber nichts zu tun, beeilt sich Hruška zu betonen, „die hab ich hier noch nie gesehen“. Er lacht.

Es ist ein Tag wie jeder andere auch, und Hruška ist Arzt in Wien wie viele andere Ärzte auch. Mit einem Unterschied: Seine Patienten sterben im Durchschnitt viereinhalb Jahre früher als die Patienten von Monika Fuchs. Auch sie ist Medizinerin. Allerdings nicht in Rudolfsheim, sondern im ersten Bezirk. Dreieinhalb Kilometer Luftlinie oder vier Stationen mit der U-Bahn trennen beide Praxen. Die Patienten der beiden Ärzte trennt vor allen Dingen eines: viereinhalb Jahre Lebenserwartung.

Denn die Bewohner Rudolfsheims werden im Durchschnitt nur 77,3 Jahre alt, während ihre Nachbarn im ersten Bezirk ein Durchschnittsalter von 81,8 Jahren erreichen. Bei Männern ist die Differenz noch größer als bei Frauen. „Vor einigen Jahren war dieser Abstand noch geringer“, sagt der Gesundheitsjournalist Martin Rümmele. Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Feiertag hat er das Buch „Zukunft Gesundheit“ in Wien präsentiert. Basierend auf einem Bericht von 2003 haben sie die Lebenserwartung für 2009 berechnet. „Die Schere zwischen Arm und Reich – auch was Gesundheitszustand und Lebenserwartung betrifft – geht immer weiter auf. Auch in Wien“, sagt Rümmele.

Die beiden Praxen, jene von Hruška im 15. und jene von Fuchs im ersten Bezirk, legen somit den Blick frei auf eine Stadt, in der Armut und Wohlstand Tür an Tür beziehungsweise Bezirk an Bezirk zu finden sind. Es sind zwei unterschiedliche Spiegel ein und derselben Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der sich Armut auch in einem früheren Tod niederschlägt.

Hruška ist angesichts der Zahlen zur Lebenserwartung überrascht. Doch je länger er über die Sache nachdenkt, umso plausibler scheint ihm der viereinhalb Jahre große Unterschied. Der praktische Arzt behandelt vor allem Migranten, Arbeitslose, Sozial- und Notstandshilfeempfänger. „Kaum einer hat hier mehr als 1000 Euro monatlich“, sagt er. Zu ihm kommen auch die Bewohner eines Flüchtlingsheims der Caritas, das sich ein paar Straßen weiter befindet. Die Praxis gleicht einem mittleren Kreiskrankenhaus. Der Arzt führt sämtliche Labortests selbst durch, damit seine Patienten nicht von A nach B rennen müssen. Viele sind arbeitslos und sprechen kaum Deutsch. Jeder zusätzliche Gang auf die Behörde oder zu anderen Ärzten wird so zur Qual.

Völlig anders das Bild in der Praxis von Monika Fuchs. Das Wartezimmer ist für zwei Personen gerade groß genug. Auf einem Beistelltisch liegen Diners Club Magazin, Madonna, Diva, Petra und Anti-Aging-News. Zu Fuchs kommen vor allem Patienten aus der oberen Einkommensschicht. Menschen, die zumindest so viel verdienen, dass sie sich eine private Krankenversicherung leisten können. „Es sind Universitätsprofessoren und Leute aus dem mittleren Managementbereich“, erzählt die Ärztin. Gehen bei Hruška pro Tag 150 Patienten ein und aus, sind es bei Fuchs „manchmal nur acht, höchstens aber 20“. Durch eine Schiebetür gelangt man in den eigentlichen Behandlungsbereich. Die Ärztin bietet „Good Aging“-Angebote für Menschen an, „die ihre Gesundheit bewusst in die eigene Hand nehmen wollen“. Eine Botoxbehandlung ist ebenso erhältlich wie Peelings oder Mittel gegen Haarausfall. „Meine Patienten nehmen sich bewusst Zeit für ihre Gesundheit. Dazu braucht es natürlich ein gewisses Maß an Bildung und Wohlstand“, sagt Fuchs und räumt ein: „Wenn ich täglich ums Überleben kämpfen muss, hab ich für so was keine Zeit.“

Anita Rieder kennt diese sozialen Unterschiede sehr genau. An diesem Dienstag sitzt die Sozialmedizinerin hinter einem großen Besprechungstisch an ihrem Institut und zeichnet einen riesigen Bogen durch die Luft. „Eine Gesellschaft ist ungeheuer dynamisch und komplex“, sagt sie, „Menschen wandern zu, und sie ziehen wieder weg. Das soziale Gefüge ändert sich laufend. Das alles hat einen Einfluss auf unsere Gesundheit.“ Seit Jahren sucht sie nach Antworten auf die Frage, wieso die Bewohner des einen Bezirks früher sterben als die eines anderen. Für die Stadt Wien hat sie dazu schon zahlreiche Studien verfasst und Bewusstseinskampagnen entworfen. „Einkommen und Bildung haben eine sehr starke Auswirkung auf die Lebenserwartung. Vor allem aber ist Bildung die beste Prävention gegen Krankheit.“ So beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männern mit Universitäts- und jenen mit Pflichtschulabschluss laut Rieder ganze sechs Jahre.

Eine Studie des Gesundheitsministeriums von 2008 hat zudem gezeigt, dass die Häufigkeit chronischer Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck mit steigendem Bildungsniveau abnimmt. „Akademiker suchen ihren Arzt viermal häufiger auf als Männer mit Pflichtschulabschluss“, sagt Rümmele. Laut Gesundheitsbefragung der Statistik Austria gehen 28 Prozent der wohlhabenderen Männer zur Vorsorgeuntersuchung. Von Armut bedrohte Männer gehen viel seltener (14 Prozent). Sie kommen meistens dann, wenn es schon zu spät ist. „Bei ihnen hat der Arztbesuch sehr oft etwas mit der letztendlichen Todesursache zu tun“, sagt Rieder trocken.

Von dieser Problematik sind Arbeitslose, Frauen und Migranten am stärksten betroffen. „Rund zwei Drittel aller von manifester Armut bedrohten Menschen in Österreich sind Frauen“, sagt Rümmele. Vor allem Alleinerzieherinnen können nur arbeiten gehen, wenn die Kinderbetreuung sinnvoll geregelt und auch leistbar ist. Roland Verwiebe vom Institut für Soziologie glaubt, dass die Wahrscheinlichkeit zu verarmen für Nichtösterreicher in Wien doppelt so groß ist wie für Wiener. Oft verrichten sie auch schwere körperliche Arbeit. Das kann auch der Mediziner Hruška bestätigen: „Die meisten, die einen Job haben, arbeiten auf dem Bau. Mit dem Ergebnis, dass die Männer mit 55 Jahren völlig kaputt sind. Ich habe 60-jährige Gleisarbeiter in meiner Praxis“, sagt er. Krankschreiben wolle sich aber keiner lassen – aus Angst, der Arbeitsplatz könnte verlorengehen. „Früher habe ich an einem Montag 40 Krankenstände ausgestellt. Heute muss ich die Leute dazu zwingen, zuhause zu bleiben.“

Dass Armut krankmacht, wird an einem anderen Ort Wiens besonders deutlich. Wer wissen möchte, mit welchen Problemen Bewohner des 15. Bezirks tagtäglich zu kämpfen haben, sollte mit Claudia Jahn-Reinwald und Ingrid Klammer sprechen. Sie sind Sozialarbeiterinnen und arbeiten im Nachbarschaftszentrum der Diakonie am Kardinal-Rauscher-Platz. Die meisten Menschen, die hierherkommen, leben unter der derzeitigen Armutsgrenze von 912 Euro im Monat. Auf klassische Arbeitszeiten muss hier wenig Rücksicht genommen werden. Dienstagvormittag findet eine Wanderung auf die Sophienalpe statt. Jeden zweiten und vierten Donnerstag im Monat treffen sich die Selbsthilfegruppen der Lymphödembetroffenen, und die Adipositasselbsthilfegruppe kommt jeden letzten Donnerstag im Monat zusammen. Bludtdruckmessungen werden ebenso angeboten wie heiteres Gedächtnistraining und Gymnastik. „Die Zähne vieler, die hierherkommen, sind in sehr schlechtem Zustand“, sagt Klammer. „Für viele wird das Taggeld in Spitälern oder die Rezeptgebühr zur echten Herausforderung“, ergänzt ihre Kollegin.

Früher seien die Menschen vor allem in der Zeit um Weihnachten gekommen, „heute kommen sie durchgehend“. Den gesundheitlichen Sorgen gehen dabei meistens finanzielle Nöte voraus. Das Nachbarschaftszentrum versucht mit Gutscheinen, Schulsachen und Lebensmitteln zu helfen. „Täglich stehen Leute mit Briefen von Inkassobüros da. Strom- und Gasrechnungen können nicht bezahlt werden.“ Viele Klienten würden auf kleinstem Raum wohnen.

Das Klo am Gang, die Wohnung feucht. „Immer öfter kommen Kinder mit Asthma zu uns“, sagt Klammer. Wer im Winter kein Geld für die Heizung, hat im Frühling kein Geld für die Miete, im Sommer kein Geld für den Urlaub und im Herbst kein Geld für die Schulsachen der Kleinen. „Arme Menschen können sich die grundlegendsten Dinge wie Miete, Essen oder Heizen heute schon kaum mehr leisten“, berichtet auch die Caritas. Ein Drittel der Menschen, die sich hilfesuchend an deren Sozialberatungsstellen wenden, hat nach Abzug der Fixkosten fürs Wohnen weniger als vier Euro täglich zur Verfügung.

Das Problem der sozialen Ungleichheit und somit auch der gesundheitlichen Ungleichheit ist keinesfalls auf den ersten und den 15. Bezirk Wiens beschränkt. Es handelt sich um ein globales Phänomen. Jüngste Zahlen aus den USA zeigen noch viel gravierendere Unterschiede. Zwischen den reichsten und den ärmsten Teilen der Bevölkerung liegen bei Männern 15,4 und bei Frauen 12,8 Jahre in der Lebenserwartung. Eine Studie des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie hat ergeben: Wer weniger als 1500 Euro im Monat verdient, lebt etwa zehn Jahre kürzer als jemand mit einem Monatseinkommen von mehr als 4500 Euro. Rümmele und Feiertag zitieren in ihrem Buch auch das Beispiel der schottischen Großstadt Glasgow, in der knappe 13 Kilometer über fast drei Jahrzehnte Lebenserwartung entscheiden. Ein Kind aus dem Problemstadtteil Calton hat im Schnitt 28 Jahre weniger lang zu leben als ein Altersgenosse aus dem nahen Pendlerort Lenzie.

Der Sozialexperte Martin Schenk kritisiert die heimische Gesundheitspolitik. „Die Weltgesundheitsorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, jenes Erkrankungsrisiko, das von sozioökonomischen Bedingungen bestimmt wird, bis 2020 um 25 Prozent zu verringern.“

In acht europäischen Staaten sind bereits größere Programme zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit angelaufen. „Österreich ist nicht dabei“, sagt Schenk. „Im Gesundheitsbericht des Ministeriums kommen sozioökonomische Analysen und Strategien nicht vor.“ Mit der Missbrauchsdebatte um die vielzitierte „soziale Hängematte“ werde bewusst Stimmung gegen die Ärmsten gemacht, warnt die Caritas.

Ernst Hruškas Praxis im 15. Bezirk. Beim Ausdruck „soziale Hängematte“ zieht der Praktiker die Augenbrauen hoch, er schüttelt den Kopf und schweigt. Dann sagt er: „Wir sind eines der reichsten Länder der Erde und bringen es nicht zustande, die Leute über die Armutsgrenze zu heben. Auch das ist eine Form von Armut.“

Mitarbeit: Lukas Plank


foto flickr.com von vulkantanz