2009/09/09

Sag mir, wo du wohnst …







...und ich sag dir, wann du stirbst. Im 15. Bezirk sterben die Menschen viereinhalb Jahre früher als im ersten. Was verrät das über Wien?

für Falter

Ernst Hruška lässt sich in seinen Sessel zurückfallen und zündet sich eine Zigarette an. Der letzte Patient des heutigen Tages hat seine Praxis im 15. Wiener Gemeindebezirk gerade verlassen. Hruška ist erschöpft. „In diesem Sommer ist die Hölle los. Genauso wie in einem Winterquartal.“ Mit der Schweinegrippe hat das aber nichts zu tun, beeilt sich Hruška zu betonen, „die hab ich hier noch nie gesehen“. Er lacht.

Es ist ein Tag wie jeder andere auch, und Hruška ist Arzt in Wien wie viele andere Ärzte auch. Mit einem Unterschied: Seine Patienten sterben im Durchschnitt viereinhalb Jahre früher als die Patienten von Monika Fuchs. Auch sie ist Medizinerin. Allerdings nicht in Rudolfsheim, sondern im ersten Bezirk. Dreieinhalb Kilometer Luftlinie oder vier Stationen mit der U-Bahn trennen beide Praxen. Die Patienten der beiden Ärzte trennt vor allen Dingen eines: viereinhalb Jahre Lebenserwartung.

Denn die Bewohner Rudolfsheims werden im Durchschnitt nur 77,3 Jahre alt, während ihre Nachbarn im ersten Bezirk ein Durchschnittsalter von 81,8 Jahren erreichen. Bei Männern ist die Differenz noch größer als bei Frauen. „Vor einigen Jahren war dieser Abstand noch geringer“, sagt der Gesundheitsjournalist Martin Rümmele. Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Feiertag hat er das Buch „Zukunft Gesundheit“ in Wien präsentiert. Basierend auf einem Bericht von 2003 haben sie die Lebenserwartung für 2009 berechnet. „Die Schere zwischen Arm und Reich – auch was Gesundheitszustand und Lebenserwartung betrifft – geht immer weiter auf. Auch in Wien“, sagt Rümmele.

Die beiden Praxen, jene von Hruška im 15. und jene von Fuchs im ersten Bezirk, legen somit den Blick frei auf eine Stadt, in der Armut und Wohlstand Tür an Tür beziehungsweise Bezirk an Bezirk zu finden sind. Es sind zwei unterschiedliche Spiegel ein und derselben Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der sich Armut auch in einem früheren Tod niederschlägt.

Hruška ist angesichts der Zahlen zur Lebenserwartung überrascht. Doch je länger er über die Sache nachdenkt, umso plausibler scheint ihm der viereinhalb Jahre große Unterschied. Der praktische Arzt behandelt vor allem Migranten, Arbeitslose, Sozial- und Notstandshilfeempfänger. „Kaum einer hat hier mehr als 1000 Euro monatlich“, sagt er. Zu ihm kommen auch die Bewohner eines Flüchtlingsheims der Caritas, das sich ein paar Straßen weiter befindet. Die Praxis gleicht einem mittleren Kreiskrankenhaus. Der Arzt führt sämtliche Labortests selbst durch, damit seine Patienten nicht von A nach B rennen müssen. Viele sind arbeitslos und sprechen kaum Deutsch. Jeder zusätzliche Gang auf die Behörde oder zu anderen Ärzten wird so zur Qual.

Völlig anders das Bild in der Praxis von Monika Fuchs. Das Wartezimmer ist für zwei Personen gerade groß genug. Auf einem Beistelltisch liegen Diners Club Magazin, Madonna, Diva, Petra und Anti-Aging-News. Zu Fuchs kommen vor allem Patienten aus der oberen Einkommensschicht. Menschen, die zumindest so viel verdienen, dass sie sich eine private Krankenversicherung leisten können. „Es sind Universitätsprofessoren und Leute aus dem mittleren Managementbereich“, erzählt die Ärztin. Gehen bei Hruška pro Tag 150 Patienten ein und aus, sind es bei Fuchs „manchmal nur acht, höchstens aber 20“. Durch eine Schiebetür gelangt man in den eigentlichen Behandlungsbereich. Die Ärztin bietet „Good Aging“-Angebote für Menschen an, „die ihre Gesundheit bewusst in die eigene Hand nehmen wollen“. Eine Botoxbehandlung ist ebenso erhältlich wie Peelings oder Mittel gegen Haarausfall. „Meine Patienten nehmen sich bewusst Zeit für ihre Gesundheit. Dazu braucht es natürlich ein gewisses Maß an Bildung und Wohlstand“, sagt Fuchs und räumt ein: „Wenn ich täglich ums Überleben kämpfen muss, hab ich für so was keine Zeit.“

Anita Rieder kennt diese sozialen Unterschiede sehr genau. An diesem Dienstag sitzt die Sozialmedizinerin hinter einem großen Besprechungstisch an ihrem Institut und zeichnet einen riesigen Bogen durch die Luft. „Eine Gesellschaft ist ungeheuer dynamisch und komplex“, sagt sie, „Menschen wandern zu, und sie ziehen wieder weg. Das soziale Gefüge ändert sich laufend. Das alles hat einen Einfluss auf unsere Gesundheit.“ Seit Jahren sucht sie nach Antworten auf die Frage, wieso die Bewohner des einen Bezirks früher sterben als die eines anderen. Für die Stadt Wien hat sie dazu schon zahlreiche Studien verfasst und Bewusstseinskampagnen entworfen. „Einkommen und Bildung haben eine sehr starke Auswirkung auf die Lebenserwartung. Vor allem aber ist Bildung die beste Prävention gegen Krankheit.“ So beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männern mit Universitäts- und jenen mit Pflichtschulabschluss laut Rieder ganze sechs Jahre.

Eine Studie des Gesundheitsministeriums von 2008 hat zudem gezeigt, dass die Häufigkeit chronischer Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck mit steigendem Bildungsniveau abnimmt. „Akademiker suchen ihren Arzt viermal häufiger auf als Männer mit Pflichtschulabschluss“, sagt Rümmele. Laut Gesundheitsbefragung der Statistik Austria gehen 28 Prozent der wohlhabenderen Männer zur Vorsorgeuntersuchung. Von Armut bedrohte Männer gehen viel seltener (14 Prozent). Sie kommen meistens dann, wenn es schon zu spät ist. „Bei ihnen hat der Arztbesuch sehr oft etwas mit der letztendlichen Todesursache zu tun“, sagt Rieder trocken.

Von dieser Problematik sind Arbeitslose, Frauen und Migranten am stärksten betroffen. „Rund zwei Drittel aller von manifester Armut bedrohten Menschen in Österreich sind Frauen“, sagt Rümmele. Vor allem Alleinerzieherinnen können nur arbeiten gehen, wenn die Kinderbetreuung sinnvoll geregelt und auch leistbar ist. Roland Verwiebe vom Institut für Soziologie glaubt, dass die Wahrscheinlichkeit zu verarmen für Nichtösterreicher in Wien doppelt so groß ist wie für Wiener. Oft verrichten sie auch schwere körperliche Arbeit. Das kann auch der Mediziner Hruška bestätigen: „Die meisten, die einen Job haben, arbeiten auf dem Bau. Mit dem Ergebnis, dass die Männer mit 55 Jahren völlig kaputt sind. Ich habe 60-jährige Gleisarbeiter in meiner Praxis“, sagt er. Krankschreiben wolle sich aber keiner lassen – aus Angst, der Arbeitsplatz könnte verlorengehen. „Früher habe ich an einem Montag 40 Krankenstände ausgestellt. Heute muss ich die Leute dazu zwingen, zuhause zu bleiben.“

Dass Armut krankmacht, wird an einem anderen Ort Wiens besonders deutlich. Wer wissen möchte, mit welchen Problemen Bewohner des 15. Bezirks tagtäglich zu kämpfen haben, sollte mit Claudia Jahn-Reinwald und Ingrid Klammer sprechen. Sie sind Sozialarbeiterinnen und arbeiten im Nachbarschaftszentrum der Diakonie am Kardinal-Rauscher-Platz. Die meisten Menschen, die hierherkommen, leben unter der derzeitigen Armutsgrenze von 912 Euro im Monat. Auf klassische Arbeitszeiten muss hier wenig Rücksicht genommen werden. Dienstagvormittag findet eine Wanderung auf die Sophienalpe statt. Jeden zweiten und vierten Donnerstag im Monat treffen sich die Selbsthilfegruppen der Lymphödembetroffenen, und die Adipositasselbsthilfegruppe kommt jeden letzten Donnerstag im Monat zusammen. Bludtdruckmessungen werden ebenso angeboten wie heiteres Gedächtnistraining und Gymnastik. „Die Zähne vieler, die hierherkommen, sind in sehr schlechtem Zustand“, sagt Klammer. „Für viele wird das Taggeld in Spitälern oder die Rezeptgebühr zur echten Herausforderung“, ergänzt ihre Kollegin.

Früher seien die Menschen vor allem in der Zeit um Weihnachten gekommen, „heute kommen sie durchgehend“. Den gesundheitlichen Sorgen gehen dabei meistens finanzielle Nöte voraus. Das Nachbarschaftszentrum versucht mit Gutscheinen, Schulsachen und Lebensmitteln zu helfen. „Täglich stehen Leute mit Briefen von Inkassobüros da. Strom- und Gasrechnungen können nicht bezahlt werden.“ Viele Klienten würden auf kleinstem Raum wohnen.

Das Klo am Gang, die Wohnung feucht. „Immer öfter kommen Kinder mit Asthma zu uns“, sagt Klammer. Wer im Winter kein Geld für die Heizung, hat im Frühling kein Geld für die Miete, im Sommer kein Geld für den Urlaub und im Herbst kein Geld für die Schulsachen der Kleinen. „Arme Menschen können sich die grundlegendsten Dinge wie Miete, Essen oder Heizen heute schon kaum mehr leisten“, berichtet auch die Caritas. Ein Drittel der Menschen, die sich hilfesuchend an deren Sozialberatungsstellen wenden, hat nach Abzug der Fixkosten fürs Wohnen weniger als vier Euro täglich zur Verfügung.

Das Problem der sozialen Ungleichheit und somit auch der gesundheitlichen Ungleichheit ist keinesfalls auf den ersten und den 15. Bezirk Wiens beschränkt. Es handelt sich um ein globales Phänomen. Jüngste Zahlen aus den USA zeigen noch viel gravierendere Unterschiede. Zwischen den reichsten und den ärmsten Teilen der Bevölkerung liegen bei Männern 15,4 und bei Frauen 12,8 Jahre in der Lebenserwartung. Eine Studie des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie hat ergeben: Wer weniger als 1500 Euro im Monat verdient, lebt etwa zehn Jahre kürzer als jemand mit einem Monatseinkommen von mehr als 4500 Euro. Rümmele und Feiertag zitieren in ihrem Buch auch das Beispiel der schottischen Großstadt Glasgow, in der knappe 13 Kilometer über fast drei Jahrzehnte Lebenserwartung entscheiden. Ein Kind aus dem Problemstadtteil Calton hat im Schnitt 28 Jahre weniger lang zu leben als ein Altersgenosse aus dem nahen Pendlerort Lenzie.

Der Sozialexperte Martin Schenk kritisiert die heimische Gesundheitspolitik. „Die Weltgesundheitsorganisation hat sich zum Ziel gesetzt, jenes Erkrankungsrisiko, das von sozioökonomischen Bedingungen bestimmt wird, bis 2020 um 25 Prozent zu verringern.“

In acht europäischen Staaten sind bereits größere Programme zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit angelaufen. „Österreich ist nicht dabei“, sagt Schenk. „Im Gesundheitsbericht des Ministeriums kommen sozioökonomische Analysen und Strategien nicht vor.“ Mit der Missbrauchsdebatte um die vielzitierte „soziale Hängematte“ werde bewusst Stimmung gegen die Ärmsten gemacht, warnt die Caritas.

Ernst Hruškas Praxis im 15. Bezirk. Beim Ausdruck „soziale Hängematte“ zieht der Praktiker die Augenbrauen hoch, er schüttelt den Kopf und schweigt. Dann sagt er: „Wir sind eines der reichsten Länder der Erde und bringen es nicht zustande, die Leute über die Armutsgrenze zu heben. Auch das ist eine Form von Armut.“

Mitarbeit: Lukas Plank


foto flickr.com von vulkantanz

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