2008/10/24

Neue Gefahr für das Opfer











War Natascha Kampuschs Entführer doch kein Einzeltäter? Die neuerlichen Ermittlungen werden für Österreichs Boulevardpresse zur Bewährungsprobe mit zweifelhaftem Ausgang

Glück, sagt Gerald Ganzger, könne er jetzt gut gebrauchen. Ganzger ist Rechtsanwalt und vertritt die Rechte von Natascha Kampusch. Eine zeitintensive Arbeit, denn um Kampuschs Rechte stand es zuletzt nicht gut. Immer wieder waren intime Details Gegenstand öffentlicher Berichterstattung. Ganzger fürchtet, dass sich das jetzt wiederholen könnte.

Der Grund: Justizministerin Maria Berger hat sich entschieden, dass wieder ermittelt wird. Grundlage für die Untersuchungen bietet ein Evaluierungsbericht der sogenannten "Kampusch-Kommission“. Es gilt, Ungereimtheiten zu klären: Im Mittelpunkt steht die Frage, ob tatsächlich nur Wolfgang Priklopil oder doch mehrere Täter für die Entführung der damals Zehnjährigen verantwortlich waren. Grundlage für die Wiederaufnahme des Falls bildet die Zeugenaussage eines zwölfjährigen Mädchens, das die Entführung beobachtet haben will und unmittelbar danach von zwei Tätern berichtet hatte. Bereits nächste Woche könnte eine Sonderkommission mit der Arbeit beginnen.

Ganzger und Kampusch begrüßen offiziell die wieder aufgenommene Untersuchung. Alles sei gut, was der weiteren Aufklärung des Falls dienlich sei, sagt Ganzger im Gespräch mit ZEIT ONLINE. "Tatsache ist aber, dass Frau Kampusch keine eigenen Wahrnehmungen über einen etwaigen Mittäter hat. Ob es aber Mitwisser gab, kann sie natürlich nicht sagen.“

Als im Februar bekannt wurde, dass die Ermittlungen von massiven Pannen geprägt waren, hatte Kampusch selbst Aufklärung verlangt. Der damalige Chef des Bundeskriminalamtes, Herwig Haidinger, hatte in einem Untersuchungsausschuss schwere Vorwürfe an Politiker und Ermittler gerichtet. Er beschuldigte das Innenministerium und das Bundeskriminalamt, sie seien wichtigen Hinweisen auf den Entführer der heute 20-Jährigen nicht nachgegangen. Nur eineinhalb Monate nach dem Verschwinden Kampuschs hätte es seinerzeit einen konkreten Hinweis eines Hundeführers gegeben. Priklopil, der zuvor bereits wegen seines Wagens überprüft worden war, sei danach nicht erneut kontrolliert worden. Ganzger drohte den Behörden mit einer Amtshaftungsklage. Die "Kampusch-Kommission" wurde installiert.

Kampusch versucht derweil, ein in Ansätzen normales und geregeltes Leben zu führen. Auf dem Privatsender Puls4 moderiert sie eine Talkshow und in einem Zeitungsinterview sprach sie sogar davon, eine Familie gründen zu wollen. Es war eines jener Interviews, das sie von Zeit zu Zeit gibt, um die Berichterstattung über sich selbst in geregelte Bahnen zu lenken. Eine Strategie, die sie seit ihrer Selbstbefreiung verfolgt hatte – mit zweifelhaftem Ergebnis. Die neuerliche Aufmerksamkeit könnte für sie deshalb zur Belastungsprobe werden: Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass der österreichische Boulevard gewillt ist, Persönlichkeitsrechte und Opferschutz außer Acht zu lassen, wenn es der Steigerung der eigenen Auflage dient.

So hatte die Gratiszeitung Heute im April aus den Protokollen eines Arztes und einer Polizistin vom ersten Tag nach Kampuschs Flucht zitiert und dabei über persönliche Details aus der Zeit von Kampuschs Gefangenschaft berichtet. Ihr Anwalt Ganzger möchte darüber ein halbes Jahr später nicht mehr sprechen. "Das ist erledigt.“ Er glaubt, "dass das Heute heute nicht mehr machen würde“. Dennoch fürchtet er, weitere Informationen aus den Akten könnten an die Öffentlichkeit gelangen und Kampuschs Persönlichkeitsrechte einmal mehr verletzt werden.

Die Sorgen scheinen berechtigt. In dieser Woche zitierte die Tageszeitung Österreich aus einem vertraulichen Gerichtsgutachten zum Inzestfall Amstetten. Der Titel der Geschichte: "Ich habe sie beim Sex nie angeschaut.“ Josef F. ist nicht rechtskräftig verurteilt, ein Verfahren hat bis dato noch nicht stattgefunden. Österreich kümmert das freilich wenig.

Und ob Heute tatsächlich aus den Ereignissen gelernt hat, wie Ganzger hofft, scheint angesichts der aktuellen Berichterstattung zweifelhaft. So feierte die U-Bahnzeitung in seiner Freitagsausgabe die Wiederaufnahme des Falls als "eine wichtige Entscheidung für das Ansehen der Justiz" und vor allem als "Riesenerfolg für Heute“ selbst. Frei nach dem Motto: Wenn's die Behörden nicht können, muss eben der Boulevard ran.

Die Beispiele Kampusch und Amstetten haben deutlich gemacht, dass die Selbstregulierung der Presse in Österreich nicht funktioniert. Der Staat möchte nun gegenlenken. Alfred Noll ist Rechtsanwalt und sitzt in einer Arbeitsgruppe des Justizministeriums. Ihr Ziel: Eine Novellierung des Mediengesetzes. Denn das Organ zur Selbstregulierung der Presse, der Presserat, "ist tot und ich sehe nicht, dass es hier in absehbarer Zeit zu einer Reorganisation kommt“, sagt Noll. Das mache eine Verschärfung des Mediengesetzes durch den Gesetzgeber notwendig.

Künftig soll die betragsmäßige Beschränkung für Entschädigungssummen aufgehoben ("Nach oben hin offen“) und ein Schutz vor Paparazzi eingeführt werden. Weil die Frist für die Geltendmachung von Schadensersatzanspruch verlängert werden soll, könnten neue Persönlichkeitsverletzungen für die Medien auch im Fall Kampusch Folgen haben: Bei einer erfolgreichen Gesetzesänderung hätten die nächsten Grenzüberschreitungen der Boulevardpresse dann äußerst teure Konsequenzen.


foto auf www.flickr.com von Markus Schlaffke

Isolation als letzter Ausweg

Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 24.10.2008 - 10:30 Uhr

In den USA steigt die Gewalt gegen homosexuelle Schüler. In Chicago soll ihnen eine eigene Schule nun Schutz bieten. Das Konzept ist umstritten

Lawrence King starb an einem Freitag im vergangenen Februar. King war 15 Jahre alt und schwul. Letzteres wurde ihm zum Verhängnis. Sein 14-jähriger Mörder, Brandon McInerney, verabscheute "Larry“ für dessen sexuelle Orientierung. Er schoss ihm während des Unterrichts zweimal in den Kopf. King hatte zwei Tage zuvor gewagt, McInerney zum Valentinstag einzuladen.

In Chicago soll nun eine Schule nur für schwule und lesbische Schüler eröffnet werden, um sie zu schützen. Der Fall Lawrence King mag zwar ein Extrembeispiel sein, doch immer mehr homosexuelle Jugendliche fühlen sich wegen ihrer sexuellen Orientierung unterdrückt.

Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie des Gay, Lesbian and Straight Education Network (GLSEN) versäumen homosexuelle Schüler in den Vereinigten Staaten drei Mal häufiger als andere Schüler den Unterricht, weil sie sich verfolgt fühlen. 86 Prozent gaben an, beschimpft worden zu sein, 22 Prozent wurden bereits körperlich verletzt. Mehr als die Hälfte der befragten Schüler (60,8 Prozent) fühlt sich in der eigenen Schule nicht mehr sicher. Und die Unterdrückung schlägt sich auch auf die Benotung nieder: Homosexuelle Schüler sind in den Vereinigten Staaten im Schnitt um eine halbe Notenstufe schlechter als ihre heterosexuellen Klassenkameraden.

Doch der Plan für den Pride Campus an der School of Social Justice ist in den USA umstritten. Gegner führen an, dass eine eigene Schule nicht dazu führen würde, Schwule und Lesben in die Gesellschaft zu integrieren, sondern im Gegenteil die Trennung noch vorantreiben würde. Sie fordern stattdessen Gesetze, die Schüler vor homophoben Übergriffen schützen sollen.

Josh Edelmann aus der Chicagoer Schulverwaltung gilt als Befürworter des Pride Campus: "Es soll keine schwule Highschool sein, aber sie ist durchaus für Kinder gedacht, die das Gefühl haben, Opfer von Angriffen wegen ihrer sexuellen Orientierung geworden zu sein.“ Es gehe einzig darum, den Kindern eine Alternative zu bieten, ihnen eine ebenso hoch qualifizierte Ausbildung zukommen zu lassen. "Wenn wir nichts unternehmen, wird es weiterhin Berichte von schlechten Noten, gewalttätigen Angriffen und sogar Morden wie dem an Lawrence King geben."

Auch in Deutschland leiden homosexuelle Jugendliche unter Diskriminierung in Schulen. Eine vom Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) und vom Bundesministerium für Familie in Auftrag gegebene Studie zu Einstellungen von Jugendlichen zu Homosexualität kam vergangenen September zu einem erschreckenden Ergebnis. 47,7 Prozent der befragten deutschen Jugendlichen gaben an, sie fänden es abstoßend, wenn sich schwule Männer auf der Straße küssen würden. Unter den Kindern türkischer Abstammung waren es sogar 80 Prozent.

Renate Rampf, Sprecherin des LSVD, verfolgt solche Entwicklungen mit Sorge. Eine eigene Schule wie in Chicago kann sie sich für Deutschland jedoch nicht vorstellen. "Homosexualität ist nicht nur ein Thema, das Schwule und Lesben betrifft. Es betrifft alle. Eine Sonderschule ist sicher nicht der richtige Weg.“ Bessern könnte sich die Sache nur dann, "wenn auch die Heteros mit ins Boot geholt werden“.

2008/10/21

Ermittlungen gegen mutmaßlichen NS-Verbrecher

Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 20.10.2008 - 14:58 Uhr

Recherchen eines Studenten brachten die Justiz auf die Spur eines 89-Jährigen. Er soll 1945 an der Ermordung von 60 Juden in Österreich beteiligt gewesen sein

Es war der Morgen des Gründonnerstags, am 29. März 1945, als im österreichischen Deutsch Schützen rund 60 jüdische Zwangsarbeiter zusammengetrieben wurden. In einer Waldlichtung nahe der Kirche wurden sie von deutschen Soldaten erschossen. 50 Jahre später wurde das Massengrab entdeckt, 63 Jahre später soll nun einer der Täter in Deutschland ausfindig gemacht worden sein. Der 89-Jährige lebt angeblich unweit seines Geburtsortes in Nordrhein-Westfalen.

Ein österreichischer Student der Politikwissenschaft, Andreas Forster, war im Zuge seines Forschungspraktikums auf den Namen des Mannes gestoßen, der Mitglied der Waffen-SS gewesen sein soll. Der Name sei zwar gelegentlich falsch geschrieben worden, sei aber seit 1946 bekannt gewesen, berichtet die österreichische Nachrichtenseite ORF Online.

Forster hatte daraufhin eine Anfrage an das Bundesarchiv in Berlin gestellt, wo es Akten über den Mann gab. Er informierte seinen Professor Walter Manoschek am Institut für Staatswissenschaft in Wien. Manoschek fuhr nach Deutschland, um dem Verdächtigen einen unangekündigten Besuch abzustatten. "Ich war überrascht, dass er einem Interview mit Kamera zugestimmt hat“, sagte Manoschek im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Der 89-Jährige habe über das plötzliche Interesse nicht verwundert gewirkt. "Ich hatte das Gefühl, er benutzte mich als Sparringpartner. Er wollte sehen, was ich wusste, was aktenkundig ist, um sich auf ein etwaiges Gerichtsverfahren vorzubereiten.“

Manoschek fuhr drei Mal nach Nordrhein Westfalen und interviewte den 89-Jährigen insgesamt sieben Tage lang. Er konfrontierte ihn mit Zeugenaussagen aus einem Prozess, der kurz nach dem Krieg 1946 in Wien geführt wurde. Sie sollen den 89-Jährigen schwer belasten. Zu Beginn des Interviews habe der Beschuldigte erklärt, er könne sich an die Stunden der Erschießungen nicht erinnern. Die Zeugenaussagen könne er sich nicht erklären, sie könnten aber stimmen. Das habe sich am Ende des Interviews aber wieder geändert, sagte Manoschek. Der 89-Jährige leugne nun jegliche Beteiligung an dem Massaker.

Manoschek erstattete nach den Interviews Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Dortmund. Die leitete am 15. August ein Ermittlungsverfahren gegen den Mann ein. "Wir forcieren die Sache“, sagte Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß ZEIT ONLINE. Maaß leitet die Zentralstelle zur Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen. Eine Vernehmung noch in diesem Jahr schließt er nicht aus. "Wir sind dabei, das umfangreiche Material auszuwerten und etwaige Zeugen, sofern sie noch am Leben sind, zu befragen.“

Weitere Einzelheiten wollte der Staatsanwalt derzeit nicht nennen. Kontakt zu dem Beschuldigten bestünde noch nicht. Nach den Interviews dürfte er aber mit Ermittlungen bereits rechnen. Manoschek und Forster wollen ihr Material indes als Dokumentarfilm veröffentlichen. "Es ist nur eine Frage der Finanzierung“, sagt der Wissenschaftler.

Tatort: Undercover in Hamburg





















Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 21.10.2008 - 14:24 Uhr



Am Sonntag ermittelt Mehmet Kurtulus zum ersten Mal als Cenk Batu im "Tatort" Hamburg. Im Rahmen der ARD-Krimiserie stellt er ein Novum dar: ein Deutsch-Türke als verdeckter Ermittler

James Bond blutet neuerdings auch mal aus der Nase. Bond-Darsteller Daniel Craig teilt nicht nur aus, sondern muss ordentlich einstecken. Batman wiederum wurde mit Christian Bale düsterer: ein von Selbstzweifeln geplagter Held. Und jetzt scheint mit Mehmet Kurtulus auch ein klein wenig Realismus im Tatort Hamburg anzukommen. In mehrfacher Hinsicht: Mit Kurtulus soll die Serie direkter, unmittelbarer werden und das Deutschland im Jahre 2008 widerspiegeln. Die von ihm verkörperte Figur Cenk Batu ist ein Deutscher türkischer Abstammung.

Wenn Kurtulus diesen Sonntag erstmals als Batu in Hamburg ermittelt, soll nichts mehr so sein, wie es einmal war. Castorff-Darsteller Robert Atzorn geht in Tatort-Rente und an seine Stelle tritt ein verdeckter Ermittler. Kein Revier, keine Kaffeemaschine, keine Pathologie, gerademal ein Kollege. Batus Revier ist die Straße. Der klassische Tatort-Tote zu Beginn einer jeden Folge fällt aus.

Das Publikum - und mit ihm die Kamera - ist immer an Batus Seite. Immer unterwegs, immer da, wo auch der Tatort ist. Als Zuschauer sieht man nicht mehr als Batu, weiß nicht mehr als Batu. In der ganzen ersten Folge (Auf der Sonnenseite, Sonntag 20.15 Uhr in der ARD) gibt es nur eine einzige Szene, in der der neue ARD-Ermittler nicht im Bild ist. Der Zuschauer wird zum Insider.

Im Fernsehen ist Batu ein Novum: Er ist der erste deutsche Kommissar mit türkischem Hintergrund. Doch ähnlich wie in Jakob Arjounis Kriminalromanen rund um den Privatdetektiv Kemal Kayankaya ist das "Türkische" allenfalls Thema, weil es andere dazu machen. Die Rolle Batus "soll sich nicht im Türkischen ertränken", sagt Kurtulus im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Sein Hintergrund soll eine Beiläufigkeit entwickeln, die sie im Alltag vielfach schon erreicht hat. Im Fernsehen wurde das bis dato kaum wiedergegeben. "Schauen Sie mal ins Fernsehen und dann aus dem Fenster. Das Straßenbild in Deutschland zeigt Menschen mit verschiedenen Hautfarben. Diese sieht man kaum."

Kurtulus spielt einen Einzelgänger ohne Büro und geregelte Dienstzeiten. Sein einziger Draht zur normalen Welt ist sein Vorgesetzter, gespielt von Peter Jordan. Ansonsten ist Batu auf sich allein gestellt. "Aus diesem Perspektivenwechsel resultiert eine künstlerisch neue Erzählstruktur und ästhetisch gesehen eine andere Bildsprache", sagt Kurtulus. Handlungsstränge werden nicht mehr haarklein erklärt. "Weniger Informationen, weniger Behauptung und eine klare, entschiedene und intime Bildsprache", sagt Regisseur Richard Huber.

Kurtuls selbst sieht diese Rolle als Katalysator für seine weitere Karriere. Er wurde 1972 in der türkischen Stadt Uşak geboren. Im Alter von zwei Jahren zog er mit seiner Familie nach Salzgitter in Niedersachsen. Sein Vater kam nach Deutschland, um hier lebenden Türken Türkisch beizubringen. In Hamburg macht Kurtulus sprichwörtlich seine ersten Schritte – beruflich und privat. Er studiert Schauspiel und erhielt seine ersten Engagements neben Hamburg in Berlin. 1997 arbeitete er mit Regisseur Fatih Akin zusammen. Ein Jahr später folgten Durchbruch und Grimme-Preis für die Rolle des läuterungswilligen Kleinkriminellen in Kurz und Schmerzlos. In Akins Gegen die Wand trat er als Koproduzent auf.

Kurtulus hat sich für insgesamt sechs Tatort-Folgen verpflichten lassen. Noch im Herbst soll die zweite Tatort-Folge mit ihm gedreht werden. Sieben Jahre wie Atzorn? "Ich glaube nicht, dass ich mich in Hamburg sieben Jahre undercover halten kann."

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2008/10/19

Ins rechte Licht gerückt






















Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 15.10.2008 - 15:59 Uhr

Journalisten dürfen häufig nur berichten, wenn sie Knebelverträge unterschreiben. Künstler und PR-Agenturen wollen kontrollieren, was nicht mehr zu kontrollieren ist



Eigentlich hätte die deutsche Schauspielerin und Ulrike-Meinhof-Darstellerin Martina Gedeck aufs Cover der Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt kommen sollen. Statt ihr lächelt nun Fernsehmoderator Tobias Schlegel von der Frontseite. Er war die zweite Wahl. Die Redaktion hatte sich entschlossen, von Gedeck abzusehen. Kein Interview. Kein Cover.

Stattdessen erschien in der Zeitung ein Artikel unter dem Titel: "Nicht mit uns! Warum ein geplantes Interview mit Martina Gedeck nicht stattfindet." Der Grund: Immer öfter werden Journalisten dazu angehalten, Verträge und Akkreditierungsbestimmungen zu unterschreiben, die wohlige Berichterstattung garantieren sollen. Die Regularien gleichen sich häufig: Fotos dürfen nur aus bestimmten Blickwinkeln geschossen werden. Texte sollen nicht mehr in Redaktionen, sondern am besten gleich in den PR-Agenturen selbst redigiert werden.

Im konkreten Fall, schreibt Hinz&Kunzt, sollten Zitate und die drei Sätze vor und nach den Zitaten vorgelegt werden. Man hätte sich des Weiteren dazu verpflichten müssen, Frau Gedeck aufs Cover zu heben und sämtliche Bildunterschriften, Zwischenzeilen, Überschriften und Unterzeilen vorzulegen. Fotos sowieso. Gedecks Agentur wollte zu dem konkreten Fall keine Stellung nehmen.

Auch im Zusammenhang mit dem Film Der Baader Meinhof Komplex ist es mehrfach zu solch negativen Schlagzeilen gekommen. Die ersten gab es, als der Film noch gar nicht in den Kinos war. Der Einladung zur Münchner Pressevorführung lag ein Vertrag bei, in denen sich die Journalisten mit ihrer Unterschrift damit einverstanden erklären mussten, keine ausführlichen Besprechungen und Kritiken vor dem 17. September - rund eine Woche vor Kinostart - und keine Interviews oder sonstigen Artikel zum Film vor dem 12. September zu veröffentlichen.

Solche Sperrfristen sind mittlerweile nichts Ungewöhnliches mehr. Für Aufregung sorgten allerdings die Konsequenzen, mit denen die Agentur drohte: Für eine Zuwiderhandlung sollte eine Konventionalstrafe von insgesamt 100.000 Euro fällig werden, jeweils zur Hälfte vom betroffenen Journalisten bzw. seinem Medium an die Münchner Constantin Film zu überweisen. "Der Fall Baader-Meinhof war auch für uns eine Premiere", sagt Hendrik Zörner, Pressesprecher des deutschen Journalistenverbands (DJV). "Dass ein Filmverleiher mit einer Strafe in der Höhe von 50.000 Euro gedroht hat, haben auch wir noch nicht erlebt." Und Zörner hat schon einiges erlebt. Herbert Grönemeyer, Robbie Williams, Katie Melua, David Copperfield, die Kelly Family – sie alle hatten versucht, Einfluss auf Art und Weise der Berichterstattung zu nehmen.

Dabei geht es um die heikle Frage, wo Pressefreiheit anfängt und Vertragsfreiheit aufhört. Oft werden Verträge oder Akkreditierungsbestimmungen erst kurz vor der jeweiligen Veranstaltung vorgelegt, sodass es zeitlich nicht mehr möglich ist, gegen die einzelnen Bestimmungen rechtlich vorzugehen. Veranstalter verweisen auf das Recht der Vertragsfreiheit und auf das Hausrecht. "Konzertarenen werden so zu Wohnzimmern erklärt", ärgert sich Zörner. Viele Medienvertreter fordern daher den Journalistenverband auf, Musterprozesse zu führen. Experten sind jedoch uneins über die Erfolgsaussichten solcher Klagen. Solange keine Musterprozesse geführt werden, bleiben den Medien einzig die Möglichkeit des Boykotts und die Hoffnung, dass sich Kollegen anderer Zeitungen solidarisch erklären und über solche Veranstaltungen ebenfalls nicht berichten.

Justus Demmer ist Pressesprecher der Deutschen Presseagentur (dpa). Auch er spricht von einem Trend. Immer häufiger werde versucht, die aktuelle Berichterstattung zu beeinflussen oder gar zu unterbinden. "Aus Berichterstattung soll eine PR-Veranstaltung gemacht werden." Die Forderungskataloge der Veranstalter reichten mittlerweile bis hin zur detaillierten Beschreibung des Foto-Equipments. "Der letzte Schritt ist der Versuch, die Rechte am produzierten Material einzufordern."

Ein besonders anschauliches Beispiel war vor zwei Jahren die Deutschland-Tour von Robbie Williams. Das Album Intensive Care durften Journalisten im Vorfeld nur per T-Mobile-Handy-Abspielfunktion hören. Die Pressemappe bestand zu großen Teilen aus Material der Werbepartner. Beim Konzert selbst wurde kein einziger deutscher Fotograf zugelassen. Stattdessen schickte eine britische Agentur einen Exklusiv-Fotografen und bot die Bilder für 150 britische Pfund zum Kauf an. Um für die After-Show-Party zugelassen zu werden, mussten sich die Journalisten dazu verpflichten, den Handyanbieter im Artikel zu erwähnen. Dpa und Associated Press verzichteten völlig auf die Konzertberichterstattung. Die Telecom kündigte danach an, die Verträge mit der externen PR-Agentur aufzulösen.

Solch rigide Verträge sind auch in der PR-Branche nicht unumstritten. Ulrich Nies ist Präsident der deutschen PR-Gesellschaft (DPRG). Über die Verträge sagt er: "Das bringt nur Frustrationen." Er würde seinen Kollegen schon lange abraten, solche Verträge aufzusetzen. "Der Grundsatz Control your Message ist in Zeiten von Blogs und Social Media bis zu einem gewissen Grad obsolet geworden." In der Tat stellt sich die Frage, weshalb Fotojournalisten das Konzert nach dem zweiten Lied verlassen müssen, während normale Konzertbesucher mit ihren Handys weiter aufnehmen und fotografieren. "Es ist der Versuch, die neuen Medien nach den Regeln der alten zu behandeln."

Karl Liebknecht kann die Kritik an Künstleragenturen und Konzertveranstaltern nicht mehr hören. Er ist Konzertveranstalter und erklärt gebetsmühlenartig: "Für die Auflagen kann ich nichts." Er könne nicht mehr tun, als "seinen Künstlern" aus dem Ausland zu vermitteln, was in Deutschland geht und was nicht. Einer seiner Künstler, Mark Knopfler, hatte genau dies nicht verstehen wollen: ZEIT ONLINE liegt der Vertrag vor, in dem sich Fotografen dazu verpflichten müssen, die Rechte an ihren Bildern für wahlweise ein Euro oder ein Pfund an Herren Knopfler abzutreten. Nach heftigen Protesten war die Klausel vom Tisch. Liebknecht selbst war angesichts der Forderung verwundert. Er sieht in den Verträgen den hoffnungslosen Versuch, sich gegen die zunehmende Technisierung der Medien zur Wehr zu setzen. Ein letzter Versuch zu kontrollieren, was nicht mehr zu kontrollieren ist.


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Wer wählt noch BZÖ?

Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 13.10.2008 - 17:25 Uhr

Haiders Partei Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) versucht jetzt, politisch zu überleben. Vorbild könnte ausgerechnet die bayerische CSU werden

"Begrüßen Sie den Chefpiloten und seine Manschaft!" 564 Delegierte applaudieren als Chefpilot Jörg Haider die Bühne in der Salzburger Flughafenhalle betritt. Aus den Boxen dröhnt der Song "We Are Family". Es ist der 17. April 2005. Haider hat soeben seine neue Partei, eine neue Familie mit ihm als Oberhaupt gegründet: Das orange Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), eine Splitterorganisation seiner einstigen politischen Heimat FPÖ.

Zweieinhalb Jahre später tragen die Orangen schwarz. Haiders Nachfolger als Parteiobmann, der erst 27-jährige Stefan Petzner, sprach sodann von "Weltuntergang", andere von einer "Sonne, die vom Himmel gefallen" sei. Keiner weiß in diesem Moment, wie es ohne Haider weitergehen soll. Man ringt weniger um die Zukunft Österreichs, als um das politische Überleben der Partei und darum, Haiders letzten politischen Willen zu erfüllen: "Jörg Haider hat all seine Kraft eingesetzt, um eine Große Koalition zu verhindern. Dies werde ich weiterführen, damit die Österreicher eine Regierung bekommen, die sie verdienen", sagte Petzner nach seiner Ernennung zum Parteichef.

Bei den Nationalratswahlen vor zwei Wochen schaffte die One-Man-Show Haider noch das, was im Grunde niemand mehr für möglich gehalten hatte. Haider wurde im Vorfeld von den Medien abgeschrieben. Zu früh. Das BZÖ erreichte elf Prozent der Stimmen - fast eine Verdreifachung des Ergebnisses von 2006. Ein Erfolg, der einzig und allein auf ihn zurückzuführen war. Zwei Drittel aller BZÖ-Wähler stimmten für Haider und nicht das BZÖ.

Nach seinem Tod stellt sich für viele Funktionäre die Frage: "Wer wählt das BZÖ, wenn Haider nicht mehr da ist?" Oder bleibt man dann im besten Fall, was man die vergangenen beiden Jahre war: Eine Gruppierung, die mit Ausnahme von Kärnten in keinem Landtag vertreten ist und die keine nennenswerten Parteistrukturen aufweist – nicht auf Bundes- und schon gar nicht auf Landesebene. Und keiner möchte daran denken, was wird wenn der Haider-Faktor erst verpufft ist. „Eine Wiedervereinigung zwischen FPÖ und BZÖ wäre zum jetzigen Zeitpunkt für alle ohne Gesichtsverlust möglich", sagt der österreichische Politiologe Peter Filzmaier. "Es läuft auf die Frage hinaus: Sind die Interessensgegensätze größer als die Gemeinsamkeiten?"

Klar ist, dass eine Wiedervereinigung die Parteien zum größten Parlamentsclub machen würde. Für neuen Sprengstoff wäre gesorgt. Ist es traditionsgemäß doch die größte im Parlament vertretene Partei, die im Nationalrat Anspruch auf den Posten des Nationalratspräsidenten stellt. Heinz Christian Strache, Chef der FPÖ, hat jedoch angekündigt, als "Brückenbuaer" habe er immer "Hände ausgestreckt", eine Wiedervereinigung lehnt er aber weiter ab. Er lud gleichzeitig alle "verantwortungsbewussten Kräfte" ein, den "stabilen" Weg der FPÖ mitzugehen. Das gelte sowohl für Funktionäre als auch für Wähler.

Das Dilemma des BZÖ: Die Partei könnte in der FPÖ durchaus aufgehen, sein Personal kann das nicht. Zu tief sind die Gräben, die 2005 und in den Folgejahren gezogen wurden. Ewald Stadler vom BZÖ war es, der im vergangenen Jahr jene Bilder in Umlauf brachte, die Strache beinahe das Amt gekostet hätten. Darauf zu sehen: ein junger Strache in Tarnanzug bei Wehrsportübungen mit altbekannten Neonazis. Strache sprach von Paintballspielen und blieb.

Daher kommt eine andere Konstellation immer wieder ins Gespräch. Der Blick ist auf Bayern gerichtet. Ausgerechnet die CSU könnte künftig als politisches Rolemodel für die österreichischen Rechtsparteien dienen. Was den Bayern die CSU, ist den Kärntnern das BZÖ. Haider erlangte dort 38 Prozent der Wählerstimmen. Schon nächstes Jahr stehen im südlichsten Bundesland Wahlen an. „Das BZÖ könnte in Kärnten die FPÖ eingemeinden und die FPÖ macht dies auf Bundesebene mit dem BZÖ“, sagt Filzmaier. Das hieße jedoch, dass die restlichen Landesorganisationen des BZÖ von der politischen Landkarte verschwinden würden. Institutionell wäre das sicher kein großer Verlust, „die betroffenen Funktionäre in den Bundesländern sehen das jedoch sicher weniger abstrakt“.

Auch die anstehenden Regierungsverhandlungen betreffen die Zukunft des BZÖ. Dem politischen Willen Haiders, sein ewiges Feindbild die Große Koalition zu verhindern, dürfte vermutlich nicht entsprochen werden. ÖVP-Chef Josef Pröll hatte am Montag angekündigt, Regierungsverhandlungen mit dem Wahlsieger SPÖ führen zu wollen. Andere sprechen sich für den Gang in die Opposition aus oder, wie der steirische ÖVP-Chef Hermann Schützenhöfer, für eine Koalition aus ÖVP, BZÖ und FPÖ.

Doch bleibt das BZÖ ohne Haider noch unberechenbarer als zuvor mit ihm.

Ein Kraftwerk bringt Hoffnung


Moorburg




















Von Martin Gantner | © ZEIT ONLINE 9.10.2008 - 10:19 Uhr

Hamburgs Grüne beraten heute, ob sie wegen des Kohlekraftwerks Moorburg die Koalition mit der CDU verlassen. Viele Anwohner aber sehen es eher als Segen

Die Maria-Magdalena-Kirche ist gut besucht an diesem Sonntag. Die 800-Seelen-Gemeinde Moorburg im Süden Hamburgs feiert Erntedank. 60 Gemeindemitglieder sind trotz starken Regens gekommen. „Es gibt hier ein reges Gemeindeleben“, sagt Pastorin Anja Blös nach dem Gottesdienst. Im Gemeindehaus wird Kaffee und Kuchen serviert. Die Tische sind feierlich gedeckt, Jung und Alt sitzen beisammen, Kinder vom Bastelkreis verkaufen selbst bestickte Handtücher mit dem Schriftzug „Moorburg forever“.

Alles sehr idyllisch und friedlich. Es wird viel gelacht und diskutiert. Doch auch wenn die Gemeinde diesen Eindruck nicht vermittelt: Moorburg ist ein Dorf in Kampfesstimmung. Schon seit Jahrzehnten zwischen Auf- und Abbruch gefangen.

Denn Moorburg liegt mitten im Hamburger Hafenerweiterungsgebiet. Sein Schicksal ist deshalb eigentlich besiegelt: Es soll dem Hafen früher oder später weichen, so wie andere Dörfer zuvor. Schon heute sind mehr als 90 Prozent der Häuser im Eigentum der Stadt, neu gebaut werden darf nicht mehr, und auch die Grundschule wurde 2007 geschlossen. Zu wenig Nachwuchs. Aber dennoch: Die Bürger haben die Hoffnung noch lange nicht aufgegeben. Sie wollen ihr „Paradies im Grünen“ nicht verlieren. Und die Chancen hierfür stehen nicht schlecht.

„Kraftwerk Mooburg wird gebaut“, stand vergangene Woche in den Zeitungen. Selbst den seit einigen Monaten mit der CDU in der Hansestadt regierenden Grünen ist es letztlich nicht gelungen zu verhindern, was wohl nicht mehr zu verhindern war. Im Gegenteil: Ausgerechnet der grünen Umweltsenatorin Anja Hajduk fiel es zu, den Bau des Kraftwerks zu genehmigen. Unter Auflagen zwar. Aber doch.

Noch im Wahlkampf hatte die damalige Grünen-Fraktionsvorsitzende und heutige Zweite Bürgermeisterin Christa Goetsch verkündet: „Mit uns wird keine Erlaubnis für das Kraftwerk erteilt werden.“ Was aber absehbar war, ist jetzt eingetreten: Juristisch war der Bau nicht mehr zu stoppen, der Energiekonzern Vattenfall hatte für das zwei Milliarden Euro teure Projekt ein bindende Zusage des früheren CDU-Senats. Ab 2012 soll das "CO2-Monster" – allen Protestaktionen von Umweltschützern zum Trotz – Hamburg mit Strom beliefern und das weniger effiziente, 50 Jahre alte Kraftwerk Wedel in Schleswig-Holstein ersetzen.

Dennoch oder gerade deswegen wurde Moorburg zum Sinnbild. Sinnbild für Scheitern und Läuterung grüner Politik, Sinnbild für Energie- und Hafenpolitik, aber auch Sinnbild für neue Hoffnung. „Mooburg ist gespalten“, sagt Pastorin Blös: „Die einen sind für das Kraftwerk, die anderen sind dagegen.“

In Gesprächen mit den Bewohnern fallen immer wieder dieselben Schlagwörter: Ohnmacht, Bitterkeit und Wut, aber auch Hoffnung und Zuversicht. Im Grunde ist das Dorf in zwei Fraktionen geteilt: Die einen fürchten Folgeschäden für die Elbe durch das Kühlwasser und erhöhte Feinstaubbelastung in der Luft, die anderen aber sprechen von Zuversicht. Rainer Böhrnsen gehört zu Letzteren.

Wer verstehen will, weshalb es Leute gibt, die sich für den Bau eines Kohlekraftwerks im eigenen Dorf aussprechen, muss Böhrnsen in seiner Pension am Kirchdeich besuchen. Denn viele im Dorf denken wie er. Die CO2-Argumente kümmern ihn weniger als die Aussicht, seinem Ziel näher zu sein denn je: Moorburg nicht verlassen zu müssen. Böhrnsen ist überzeugt, dass die Hafenerweiterung mit dem Kraftwerksbau vom Tisch ist, zumindest was sein Dorf betrifft. Es sei jetzt einfach zu wenig Platz da. Außerdem sei der Bau eines neuen Hafenbeckens zu teuer, zumal der Hafenumschlag auch nicht mehr so stark wachse wie in den vergangenen Jahren. „Um Moorburg mach ich mir keine Sorgen mehr“, sagt er.

Mut macht den Moorburger auch, dass wieder junge Leute aus der Stadt, Künstler und junge Familien, in das Elbdorf ziehen. Denn die Mieten sind dort günstig, man wohnt im Grünen und doch City-nah. „Wir wachsen wieder ein wenig“, sagt Böhrnsen. „Die Agonie ist verschwunden.“ Den Kindergarten besuchen seit Jahren konstant 60 Kinder. Sie kommen aus Nachbarorten, sogar aus Niedersachsen, weil da Krippenplätze fehlen. Bei den älteren Bewohnern werden da Erinnerungen an das „alte“ Moorburg wach. An jene Zeit nach dem Krieg, als das Dorf noch mehr als 2000 Einwohner hatte. Doch dann kamen Industrie und Elbflut. Da wo einst das Haus mit der Nummer eins stand, steht heute eine Raffinerie.

Sonst blieb fast alles wie früher. Wie konserviert wirkt das Dorf, weil eben keine neuen Häuser mehr gebaut werden dürfen und niemand mehr viel in sie steckt. Wie lange die alten noch stehen bleiben dürfen, ist unklar. Trotz des Kraftwerksbau gibt es bislang keine Signale vom Senat, dass er die Hafenpläne ändern will. Immerhin soll es jetzt befristete Baugenehmigungen bis 2035 geben. Sollte Moorburg dem Hafen eher weichen müssen, verpflichtet sich die Stadt, Schadensersatz zu leisten.

Hero Janssen ist dennoch weggezogen, 1962 nach der großen Flut. „Abbrennen kann man überall, aber nich´ absaufen“, sagt Janssen, die Erinnerungen an die Flut noch deutlich vor Augen. Heute ist er in Rente und kümmert sich um die Instandhaltung der Dorfkirche in Moorburg. Gegen den Kraftwerksbau setzt auch er sich nicht zur Wehr. „Wenn´s so kommt, dann kommt es so“, sagt Janssen mit ruhiger, schicksalsergebener Stimme. Am Ende des Gesprächs erklärt er, wieso das Kraftwerk, wenn schon nicht gut, dann zumindest nicht schlecht für Moorburg sei: „Es bringt Arbeit. Und wo Arbeit ist, fließt Geld. Und wo Geld fließt, fließt Lohn.“

foto martin gantner

2008/10/01

Wunsch nach Führung

ZEIT ONLINE 2008-10-01

Die meisten Stimmen bekamen Österreichs Rechtsparteien von jungen Menschen, jeder dritte Unter-30-Jährige hat sie gewählt. Woher kommt diese rechte Gesinnung?

Wenn in Österreich rechts gewählt wird, heißt es hinterher immer: „Alles halb so schlimm.“ Meinungsforscher, Politikwissenschaftler und Journalisten beeilen sich zu betonen: „Hier haben keine Neonazis gewählt.“ Die Wahl sei Ausdruck des politischen Protests. Gegen die Große Koalition, das politische Establishment, die Europäische Union und vor allem „gegen die da oben“! Selten wird für etwas gestimmt, schon gar nicht für ausländerfeindliche Parolen, selbst dann nicht, wenn sie Schwarz auf Weiß auf Österreichs Wahlplakaten nachzulesen sind: „Deutsch statt nix versteh'n" (FPÖ), oder „Österreich den Österreichern!" (BZÖ), „Ohne Deutschkurs keine Zuwanderung“ (ÖVP), „Asylbetrug heißt Heimatflug“ (FPÖ).

Die Rechtsparteien als Protest- und nicht als Gesinnungsgemeinschaft? Als Begründung für eine Wahlentscheidung kann das nicht genügen. Warum sind immer mehr junge Leute bereit, mit ihrem Protest eine intolerante Politik in Kauf zu nehmen? Das österreichische Meinungsforschungsinstitut Fessel-Gfk hatte nach der Wahl eine Umfrage präsentiert, wonach 33 Prozent der Unter-30-Jährigen die Freiheitliche Partei (FPÖ) von Heinz Christian Strache gewählt haben.

Zusammen erreichten FPÖ und das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) von Jörg Haider gar 43 Prozent unter den Jungwählern. Bei ungelernten Arbeitern schafften die Rechtsparteien mit ihrer Mischung aus sozialer und nationalistischer Politik überhaupt die absolute Mehrheit. Die Gründe für die Wahlentscheidung bilden laut Umfrage eine Trias aus „Protest gegen die Regierung“, „Spitzenkandidat“ und „frischem Wind“ in einem antiquierten System.

Die einstigen Groß- und jetzt nur noch mittelgroßen Zentrumsparteien, SPÖ und ÖVP, ahnten wohl den Erfolg des rechten Lagers und sprangen ebenfalls auf den Wir-sind-wir-Rhetorik-Zug mit auf. Die SPÖ mit ihrer kritischen Haltung zur Europäischen Union, die ÖVP mit ihrer rigiden Asylpolitik. Doch in sicherheitspolitischen Belangen und Fragen der Zuwanderung vertrauten die Wähler vor allem auf FPÖ und BZÖ. Dieser Schritt hat möglicherweise gar den Rechtspopulisten noch zusätzlich Stimmen gebracht. Chirstoph Hofinger vom SORA-Institut, das für den öffentlichen Rundfunk Umfragen erstellt hat, sagt: „Auf gewisse Art und Weise haben SPÖ und ÖVP so dem FPÖ inhaltlich zugestimmt. Ein Negativ-Campaigning gegen Rechts fehlte in diesem Wahlkampf völlig.“ Negativ-Campaigning kam nur aus der rechten Ecke und richtete sich gegen etablierte Parteien, gegen Brüssel und gegen Ausländer. „Es fehlte auch an Hoffnungsbotschaften.“

Dabei hätten gerade Österreichs Jugendliche Hoffnungsbotschaften bitter nötig. „Es gibt eine große Zukunftsangst bei den Jugendlichen. Der Wert ist im Vergleich zu anderen Staaten extrem.“ Seit Längerem sei der Wunsch nach mehr Autorität, nach starker Führung wahrnehmbar, sagt Hofinger. Da kam den Freiheitlichen ein Wahlkampf, der von Ängsten geprägt war, sehr gelegen. Die Parteien entwickelten keine Perspektiven, boten keine Gesellschaftsentwürfe oder ließen sie in den Schubladen ihrer Parteizentralen liegen. Der FPÖ war es da zumindest gelungen, ein Ventil zu öffnen, Themen anzusprechen und dem Wählerfrust freien Lauf zu lassen. Ihnen gelang es, Themen aufzunehmen, welche die Jugend stärker betreffen. Themen wie Migration und Integration. SPÖ, ÖVP und auch die Grünen versagten dabei völlig. Es fehlten Alternativen. Emotion und nicht Ideologie war letztlich für die Wahl entscheidend.

„Nur ein sehr geringer Prozentsatz der FPÖ-Wähler entstammt noch dem traditionellen Dritten Lager, also der deutschnationalen, wirtschaftsliberalen Wählerschaft“, sagt Fritz Plasser, Universitätsprofessor in Innsbruck. Warum aber verabschiedet sich dann die Partei nicht vollends von ihrer Koketterie mit ewig gestriger Deutschtümelei, von rechten Parolen und Hetze gegen Ausländer?

Weil die Funktionäre der Partei anders ticken als ihre Wähler. „Die Wählerschaft ist emotionalisiert, aber unideologisiert, der Parteikader aber ist ideologisiert.“ Noch immer, so Plasser, rekrutiere sich ein Großteil freiheitlicher Politiker aus dem nationalen Lager. Mehr als die Hälfte der FPÖ-Mandatare im letzten Nationalrat war Mitglied bei schlagenden Burschenschaften. Strache selbst darf man – per Gerichtsurteil bescheinigt – „Nähe zum nationalsozialistischen Gedankengut“ nachsagen. Während der FPÖ-Chef also politisch weit rechts steht, ist Strache für seine jungen Wählerinnen und Wähler in erster Linie sexy, dynamisch, direkt – kurz: ein Gegenentwurf zur etablierten, oft grauen Politikerriege. Der personifizierte Protest.

"Die FPÖ wählt man nicht unbedingt, damit sie in die Regierung kommt, sie soll vielmehr die Politik aufmischen", kommentiert dies Eva Zeglovits von SORA. Und „aufmischen“ wird einem 35-jährigen, polemisierenden Strache wohl eher zugetraut als einem 64-jährigen Chef einer Grünen Partei, der nicht gegen Ausländer, sondern für Ökostrom eintritt. Politisches Angebot und Wählernachfrage stimmen in Österreich also nicht überein.

„Ein Oskar Lafontaine wäre auch in Österreich sehr erfolgreich. Nur wir haben hier eben keinen Lafontaine“, sagt Plasser. Der könnte nämlich auf Anhieb an die zehn Prozent der Stimmen erreichen, ist sich der Politikwissenschaftler sicher. Bleibt die Frage, wen die heute Unter-30-Jährigen in 20 Jahren wählen werden. Hofinger: „Das erste Mal hat eine gewisse Prägungsfunktion. Die Wahrscheinlichkeit, nach 20 Jahren dieselbe oder eine ähnliche Partei zu wählen, ist relativ groß.“