2008/10/24

Neue Gefahr für das Opfer











War Natascha Kampuschs Entführer doch kein Einzeltäter? Die neuerlichen Ermittlungen werden für Österreichs Boulevardpresse zur Bewährungsprobe mit zweifelhaftem Ausgang

Glück, sagt Gerald Ganzger, könne er jetzt gut gebrauchen. Ganzger ist Rechtsanwalt und vertritt die Rechte von Natascha Kampusch. Eine zeitintensive Arbeit, denn um Kampuschs Rechte stand es zuletzt nicht gut. Immer wieder waren intime Details Gegenstand öffentlicher Berichterstattung. Ganzger fürchtet, dass sich das jetzt wiederholen könnte.

Der Grund: Justizministerin Maria Berger hat sich entschieden, dass wieder ermittelt wird. Grundlage für die Untersuchungen bietet ein Evaluierungsbericht der sogenannten "Kampusch-Kommission“. Es gilt, Ungereimtheiten zu klären: Im Mittelpunkt steht die Frage, ob tatsächlich nur Wolfgang Priklopil oder doch mehrere Täter für die Entführung der damals Zehnjährigen verantwortlich waren. Grundlage für die Wiederaufnahme des Falls bildet die Zeugenaussage eines zwölfjährigen Mädchens, das die Entführung beobachtet haben will und unmittelbar danach von zwei Tätern berichtet hatte. Bereits nächste Woche könnte eine Sonderkommission mit der Arbeit beginnen.

Ganzger und Kampusch begrüßen offiziell die wieder aufgenommene Untersuchung. Alles sei gut, was der weiteren Aufklärung des Falls dienlich sei, sagt Ganzger im Gespräch mit ZEIT ONLINE. "Tatsache ist aber, dass Frau Kampusch keine eigenen Wahrnehmungen über einen etwaigen Mittäter hat. Ob es aber Mitwisser gab, kann sie natürlich nicht sagen.“

Als im Februar bekannt wurde, dass die Ermittlungen von massiven Pannen geprägt waren, hatte Kampusch selbst Aufklärung verlangt. Der damalige Chef des Bundeskriminalamtes, Herwig Haidinger, hatte in einem Untersuchungsausschuss schwere Vorwürfe an Politiker und Ermittler gerichtet. Er beschuldigte das Innenministerium und das Bundeskriminalamt, sie seien wichtigen Hinweisen auf den Entführer der heute 20-Jährigen nicht nachgegangen. Nur eineinhalb Monate nach dem Verschwinden Kampuschs hätte es seinerzeit einen konkreten Hinweis eines Hundeführers gegeben. Priklopil, der zuvor bereits wegen seines Wagens überprüft worden war, sei danach nicht erneut kontrolliert worden. Ganzger drohte den Behörden mit einer Amtshaftungsklage. Die "Kampusch-Kommission" wurde installiert.

Kampusch versucht derweil, ein in Ansätzen normales und geregeltes Leben zu führen. Auf dem Privatsender Puls4 moderiert sie eine Talkshow und in einem Zeitungsinterview sprach sie sogar davon, eine Familie gründen zu wollen. Es war eines jener Interviews, das sie von Zeit zu Zeit gibt, um die Berichterstattung über sich selbst in geregelte Bahnen zu lenken. Eine Strategie, die sie seit ihrer Selbstbefreiung verfolgt hatte – mit zweifelhaftem Ergebnis. Die neuerliche Aufmerksamkeit könnte für sie deshalb zur Belastungsprobe werden: Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass der österreichische Boulevard gewillt ist, Persönlichkeitsrechte und Opferschutz außer Acht zu lassen, wenn es der Steigerung der eigenen Auflage dient.

So hatte die Gratiszeitung Heute im April aus den Protokollen eines Arztes und einer Polizistin vom ersten Tag nach Kampuschs Flucht zitiert und dabei über persönliche Details aus der Zeit von Kampuschs Gefangenschaft berichtet. Ihr Anwalt Ganzger möchte darüber ein halbes Jahr später nicht mehr sprechen. "Das ist erledigt.“ Er glaubt, "dass das Heute heute nicht mehr machen würde“. Dennoch fürchtet er, weitere Informationen aus den Akten könnten an die Öffentlichkeit gelangen und Kampuschs Persönlichkeitsrechte einmal mehr verletzt werden.

Die Sorgen scheinen berechtigt. In dieser Woche zitierte die Tageszeitung Österreich aus einem vertraulichen Gerichtsgutachten zum Inzestfall Amstetten. Der Titel der Geschichte: "Ich habe sie beim Sex nie angeschaut.“ Josef F. ist nicht rechtskräftig verurteilt, ein Verfahren hat bis dato noch nicht stattgefunden. Österreich kümmert das freilich wenig.

Und ob Heute tatsächlich aus den Ereignissen gelernt hat, wie Ganzger hofft, scheint angesichts der aktuellen Berichterstattung zweifelhaft. So feierte die U-Bahnzeitung in seiner Freitagsausgabe die Wiederaufnahme des Falls als "eine wichtige Entscheidung für das Ansehen der Justiz" und vor allem als "Riesenerfolg für Heute“ selbst. Frei nach dem Motto: Wenn's die Behörden nicht können, muss eben der Boulevard ran.

Die Beispiele Kampusch und Amstetten haben deutlich gemacht, dass die Selbstregulierung der Presse in Österreich nicht funktioniert. Der Staat möchte nun gegenlenken. Alfred Noll ist Rechtsanwalt und sitzt in einer Arbeitsgruppe des Justizministeriums. Ihr Ziel: Eine Novellierung des Mediengesetzes. Denn das Organ zur Selbstregulierung der Presse, der Presserat, "ist tot und ich sehe nicht, dass es hier in absehbarer Zeit zu einer Reorganisation kommt“, sagt Noll. Das mache eine Verschärfung des Mediengesetzes durch den Gesetzgeber notwendig.

Künftig soll die betragsmäßige Beschränkung für Entschädigungssummen aufgehoben ("Nach oben hin offen“) und ein Schutz vor Paparazzi eingeführt werden. Weil die Frist für die Geltendmachung von Schadensersatzanspruch verlängert werden soll, könnten neue Persönlichkeitsverletzungen für die Medien auch im Fall Kampusch Folgen haben: Bei einer erfolgreichen Gesetzesänderung hätten die nächsten Grenzüberschreitungen der Boulevardpresse dann äußerst teure Konsequenzen.


foto auf www.flickr.com von Markus Schlaffke

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