2008/11/01

Die Medien und die Herde








Über die Inflation des Krisenbegriffs und den Einfluss von Schlagzeilen auf Aktienkurse. Ein Gespräch mit Medienwissenschaftler Bertram Scheufele

ZEIT ONLINE:
Herr Scheufele, Sie haben sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich Wirtschaftsberichterstattung auf Aktienkurse auswirken kann. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?


Bertram Scheufele: Im Kern reflektiert die Berichterstattung das Marktgeschehen. Das Gegenteil ist nur sehr selten der Fall.

ZEIT ONLINE: Gibt es also keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Berichterstattung und Kursentwicklung?

Scheufele: Investoren, die tatsächlich große Anteile an Unternehmen halten, beziehen ihre Informationen aus sehr spezifischen Medien. Sie nutzen Massenmedien kaum als Informationsgrundlage.

ZEIT ONLINE: Wie sieht die Situation bei Kleinanlegern aus?

Scheufele: Bei Aktien, die stark im Streubesitz, also im Besitz vieler Kleinanleger sind, kann ein gewisser Herdentrieb vorkommen. Die T-Aktie wäre so ein Beispiel. Im Falle der VW-Aktien, von denen nur rund sechs Prozent im Streubesitz sind, gibt es aber keinen großen Zusammenhang. Das heißt aber nicht, dass Medien keine Rolle spielen. Im Gegenteil: Professionellen Investoren dienen die Medien als eine Art Seismograph.

ZEIT ONLINE:
Was bedeutet das?

Scheufele: Anhand der Massenmedien versuchen Investoren, das Verhalten von Kleinanlegern zu antizipieren, einen etwaigen Herdentrieb vorwegzunehmen und für die eigene Strategie fruchtbar zu machen. Nach dem Motto: "Ich glaube, dass Medien wenn schon nicht auf mich, dann doch auf andere wirken. Daher versuche ich, mit der vermuteten Medienwirkung zu spielen." Das Problem ist nur: Die Sache ist so komplex, so viele Faktoren spielen eine Rolle, dass die Wirkung einzelner Faktoren sehr schwer nachweisbar ist.

ZEIT ONLINE:
Wir stecken in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Wie empfinden Sie den bisherigen Umgang der Medien mit der Krise?

Scheufele: Grundsätzlich als sehr verantwortungsbewusst. Auffällig war in der Vergangenheit, also vor Ausbrechen der Krise, dass die Wirtschaftsberichterstattung meist positiv verlief. Das unterscheidet sie deutlich von der Politikberichterstattung, die meist einen kritischeren Zugang wählt. Interessant ist dies vor allen Dingen, weil dieses Muster der Wirtschaftsberichterstattung in der Krise teilweise kippt.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Scheufele: Was die Kritik an Managern anbelangt, zeigt sich jetzt ein Muster, das wir aus der Politikberichterstattung schon lange kennen. Also eine starke Personalisierung des Problems und eine Suche nach den Verantwortlichen. Aber auch hier bleibt die Berichterstattung im Rahmen. Gefährlich wäre es, wenn panikartig berichtet würde, wenn also Tipps für Finanzverhalten gegeben würden oder Ähnliches mehr.

ZEIT ONLINE: Was haben Sie gedacht, als Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt hat, sämtliche Spareinlagen würden staatlich garantiert? Hätte diese Erklärung nicht auch völlig falsch verstanden werden und das Gegenteil bewirken können?

Scheufele: Das war auch mein erster Gedanke. Fakt ist aber, dass die Auswirkungen solcher Entscheidungen im Vorfeld einfach sehr schwer abzuschätzen sind. Die Tragweiten all dieser politischen Entscheidungen sind noch nicht fassbar. Ich möchte in dieser Situation jedenfalls nicht in der Haut von Frau Merkel oder Herren Steinbrück stecken.

ZEIT ONLINE:
Medien schreiben andauernd von Krisen: Klima, Terrorismus und jetzt die Wirtschaftskrise. Wird der Krisenbegriff inflationär gebraucht?

Scheufele: Es gibt in der Tat eine Tendenz seit den siebziger Jahren hin zu negativerer Berichterstattung. Viele Wissenschaftler sehen hier einen direkten Zusammenhang mit der zunehmenden Politikverdrossenheit und der zunehmenden Zahl der Protestwähler in westlichen Demokratien. In wirtschaftlichen Fragen, also auch jetzt in der aktuellen Finanzkrise, kann eine übertriebene Krisenberichterstattung zu Verunsicherung in der Bevölkerung führen. Denn das Thema ist sehr komplex. Die Funktion der Medien, komplizierte Inhalte, wie beispielsweise Leerverkäufe, verständlich zu erklären, ist nun wichtiger denn je.

ZEIT ONLINE: Ist das Publikum bereits immun gegen die vielen Krisen?

Scheufele: Man könnte es vermuten. Diskutiert wird auch die Frage, ob diese zunehmende Negativberichterstattung Grund für ein sich änderndes Wahlverhalten ist: für den stärkeren Zulauf zu Parteien, die am Rande oder außerhalb des demokratischen Spektrums agieren. Doch wirklich nachweisen lässt sich solch eine These nur schwer.

ZEIT ONLINE: Welche Frage würden Sie im Zusammenhang mit der Krise gerne erforschen?

Scheufele: Mich würde ein Vergleich zwischen der Berichterstattung in Deutschland und den USA interessieren. Meine Vermutung ist, dass die Berichterstattung in den USA eine andere ist, weil dort der Umgang mit privaten Schulden und Krediten großzügiger ist als in Deutschland. Die persönliche Betroffenheit in der Bevölkerung dürfte viel größer sein als hier. Die Menschen sind in den USA deutlich stärker verschuldet, eine Panik des Mittelstands ist in den USA daher wahrscheinlicher. Unabhängig davon, ob die Leute Aktien besitzen oder nicht.

ZEIT ONLINE: Hat die gegenwärtige Finanzkrise für die Bevölkerung einen anderen Charakter als 9/11 oder die Polkappenerwärmung?

Scheufele: Viele haben direkt am Fernseher gesehen, wie das zweite Flugzeug in das World Trade Center gekracht ist. Auf der anderen Seite ist es schwierig, steigende oder fallende Kurse, Leerverkäufe oder Kaufoptionsscheine darzustellen. Das Typische für diese Krise ist, dass es keine Bilder dazu gibt. Und dann greifen Journalisten auf Köpfe zurück – Stichwort personalisierte Berichterstattung. Und schmelzende Polkappen lassen sich ebenfalls besser darstellen als der fallende Dax.

Fragen Martin Gantner

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Bertram Thiemo Scheufele

Scheufele hat die Rolle der Medien am Aktienmarkt untersucht. Es geht um den Zusammenhang zwischen Aktienberichterstattung und steigenden bzw. fallenden Aktienkursen und Handelsvolumina börsennotierter deutscher Unternehmen in den Jahren 2000 und 2005. Scheufele lehrt empirische Methoden in der Kommunikationswissenschaft an der Universität in Jena.


foto www.flickr.com/Travel Aficionado

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