2008/11/27

"Terror in dieser Dimension war nicht abzusehen"








































Christian Wagner ist Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Im Interview mit ZEIT ONLINE spricht er über Motive und Folgen der Anschläge




ZEIT ONLINE:
Angesichts der jüngsten Anschläge in Indien ist die Rede von einer neuen Qualität des Terrorismus. Wodurch zeichnet sich diese aus?

Christian Wagner: Die neue Qualität kommt daher, dass wir zum einen das erste Mal direkte Angriffe auf Ausländer, auf Touristen haben, zum anderen weil es vermutlich einheimische, indische Muslime sind, die diesen Terrroanschlag durchgeführt haben. Die Gruppe Deccan Mujahideen gab es zuvor noch nicht und ich vermute, sie gehört in das Umfeld der indischen Mujahedeen, die bereits in den letzten Wochen und Monaten für eine Reihe von kleineren Anschlägen in Delhi und in anderen Orten verantwortlich waren. Wenn es indische Muslime wären, dann würde das darauf hindeuten, dass sie Verbindungen haben zu internationalen Terrororganisationen. Vorbereitung, Durchführung, Logistik und Organisation sprechen dafür, dass wir es hier mit erfahrenen Terrorgruppen zu tun haben und das würde natürlich auf al-Quaida und auf islamistische Gruppen in Pakistan hindeuten.

ZEIT ONLINE: Wieso spricht man hier von der Handschrift von al-Quaida?

Wagner:
Zum einen, weil Ausländer und Touristen gezielt attackiert werden. al-Quaida hat Indien ja vor einigen Jahren den Krieg erklärt. Man will die Region Kaschmir befreien und die indische Union islamisieren. Hier aber ist es wohl vor allem der Angriff auf die westlichen Staatsbürger, der ein typisches al-Quaida-Merkmal aufweist.

ZEIT ONLINE:
Was sind das für Leute? Attentäter aus Indien selbst?

Wagner:
Das wird die große Frage sein. Die indische Regierung verweist ja auf Spuren, die außerhalb Indiens liegen. Was die Art und Weise der Durchführung anbelangt, kann das durchaus sein, aber es gibt auch die Diskussion in Indien, dass sich die Muslime in Indien selbst zunehmend radikalisiert haben und dass es vor allem unter der jüngeren Generation der Muslime hohe Unzufriedenheit gibt. Und wenn es militanten Gruppen gelingen sollte, aus diesem großen Reservoir Kämpfer zu rekrutieren, dann steht man hier wirklich vor einer neuen Qualität des Problems, einer neuen Qualität des Terrors.

ZEIT ONLINE:
Warum ausgerechnet jetzt?

Wagner: Es gibt eigentlich keinen ersichtlichen Grund. Diese Anschläge waren ja in der Vergangenheit immer wieder dazu gedacht, den Friedensprozess zwischen Indien und Pakistan zu torpedieren. Das hat nicht funktioniert. Wir haben gegenwärtig Landtagswahlen in Kaschmir. Für mich ist nicht eindeutig ersichtlich, weshalb die Anschläge ausgerechnet jetzt passiert sind.

ZEIT ONLINE:
15 Bombenanschläge in etwas mehr als fünf Jahren. War solch ein Anschlag absehbar oder gar zu verhindern?

Wagner: Es war vermutlich abzusehen, dass es in Indien eine Reihe von sozialen Konflikten gibt. Dass der Terror solch eine Dimension annimmt, war jedoch nicht abzusehen. Es gab und gibt einfach eine wachsende Unzufriedenheit bei den ärmeren Bevölkerungsgruppen, die nicht an den Früchten der Entwicklung der letzten Jahre beteiligt waren. Das stellt die indischen Sicherheitskräfte vor völlig neue Herausforderungen. Denn es gibt eine Vielzahl solcher Terrorgruppen, die nicht zu Verhandlungen bereit sind.

ZEIT ONLINE:
Wie sieht die Situation der muslimischen Minderheit in Indien aus?

Wagner:
Sie werden als gesellschaftliche Minderheit eher vernachlässigt. Das heißt sie haben weniger Zugang zu Bildung, Einkommen und Beschäftigung und somit haben sie weniger vom wirtschaftlichen Wachstum in den vergangenen Jahren profitiert.

ZEIT ONLINE: Wie funktioniert das Zusammenleben von Hindus und Moslems?

Wagner:
Es ist in den meisten Fällen ein friedliches Nebeneinander, aber es kommt im lokalen Kontext auch immer wieder zu Spannungen. Ich sehe auch nicht, dass sich die muslimische Minderheit mit den Terroristen solidarisiert. Es gibt einfach eine kleine Minderheit unter den Muslimen, die sich radikalisiert hat.

ZEIT ONLINE:
Welche Konsequenzen sehen sie für die muslimische Minderheit in Indien?

Wagner:
Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Tagen eine Reihe von Attacken auf Muslime in Bombay, aber auch in anderen Orten sehen werden. Es gibt in diesen Orten einfach die Tradition von religiösen Unruhen. So ein Anschlag schürt dann natürlich Rachegefühle seitens militanter Hindus.



ZEIT ONLINE:
Wie ist es zu bewerten, dass Pakistan sogleich die Zusammenarbeit auf geheimdienstlicher Ebene angeboten hat? Nach früheren Anschlägen stand Pakistan noch immer gleich unter Generalverdacht?

Wagner: Indien und Pakistan haben sich bereits vor einem Jahr dazu entschlossen, im Bereich des Terrorismus zusammenzuarbeiten. Das gelang bisher nur sehr schleppend. Es wäre natürlich eine völlig neue Qualität der bilateralen Beziehungen. Man wird abwarten müssen, ob die indische Regierung auf dieses Angebot eingehen wird. Beide Länder haben hier ja auch eine gemeinsame Sicherheitsbedrohung. Somit könnte es sein, dass dieser Anschlag gar den Prozess der Annäherung noch mal verstärkt, auch wenn das Ziel des Anschlags vermutlich war, diesen Prozess der Annäherung zu torpedieren.

ZEIT ONLINE: Ist also eine Beteiligung Pakistans an den Anschlägen auszuschließen?

Wagner:
Ich würde schon davon ausgehen, dass wir hier keine unmittelbare Beteiligung von pakistanischen Stellen vorliegt. Die Politik Pakistans zielt deutlicher als früher auf eine Annäherung mit Indien ab. Außerdem ist Pakistans Armee mittlerweile mit einem ähnlichen Problem an der Grenze zu Afghanistan konfrontiert. Und auch im Land selbst kommt es häufig zu terroristischen Angriffen von islamistischen Terrorgruppen. Daher glaube ich nicht, dass der Prozess der Annäherung beeinträchtigt wird. Im schlimmsten Fall wird es zu einer Pause in den Verhandlungen kommen.

ZEIT ONLINE: Muss man sich auf weitere Anschläge in nächster Zeit in Indien einstellen?

Wagner:
Ja, ich glaube wir werden noch eine Reihe von weiteren Anschlägen sehen. Nächstes Jahr sind Wahlen in Indien und das Thema "Innere Sicherheit" ist eines der beiden großen Themen neben der wirtschaftlichen Entwicklung. Und es gab ja bereits in den vergangenen Wochen immer wieder kleinere Anschläge, also ist davon auszugehen, dass wir weiterhin Terroranschläge in unterschiedlicher Form sehen werden. Vermutlich nicht in diesem Ausmaß.

ZEIT ONLINE:
Wie kann man sich Reaktionen von Hindus vorstellen. In Form von Übergriffen oder auch in Form von Anschlägen?

Wagner:
In Form von Übergriffen, eventuell auch in Form einzelner Anschläge. Man spricht in Indien mittlerweile auch von einem Hindu-Terrorismus. Hier wird man abwarten müssen, wie sich die militanten Hindus organisieren werden.

ZEIT ONLINE: Wie kann dem Problem in Indien Abhilfe geschaffen werden?

Wagner:
Wenn es indische Muslime waren, dann sind wohl die ökonomische Diskriminierung und die soziale Diskriminierung der Muslime für die Entwicklung verantwortlich. Dann müssten Entwicklungsmaßnahmen deutlich ausgeweitet werden. Das haben zwar Regierungen in der Vergangenheit immer wieder versprochen, aber wenig davon umgesetzt. Wenn es pakistanische Gruppen waren, denen es um die Torpedierung des Friedensprozesses ging, dann ist es vor allem ein Problem, das mit polizeilichen Mitteln bekämpft werden muss. Es könnte aber auch eine Mischung von beidem sein.

Die Fragen stellte Martin Gantner.


foto www.flickr.com von jusincase_ryc

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