2008/11/03

In Leben investieren
















Was kann Theater den Menschen in der Krise geben? Ein Gespräch mit dem Regisseur Stephan Kimmig, der in Hamburg Ödon von Horváths Drama "Kasimir und Karoline" inszeniert

ZEIT ONLINE:
Herr Kimmig, Ödon von Horváth hat zu Beginn der dreißiger Jahre die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise in seinem Stück Kasimir und Karoline beschrieben. Was ist die Essenz des Dramas?


Stephan Kimmig: Es zeigt deutlich, in welch trostlose, einsame Depression Menschen geraten können, wenn die ökonomischen Zwänge stärker werden. Die Figuren sind zunehmend egomanisch, das Selbstwertgefühl gerät aus der Balance, und die Außenwelt löst sich ab.

ZEIT ONLINE: Lässt sich das Stück dadurch auf die Gegenwart beziehen?

Kimmig: Ja, weil die Wirtschaftskrise hier nicht an Zahlen festgemacht wird. Horváth geht es um das, was die Krise im Einzelnen hervorruft, es geht um das Aus-der-Gesellschaft-ausgeschlossen-Sein. Und letztlich ist man in so einer Situation immer allein.

ZEIT ONLINE: Von der Arbeit bzw. der Arbeitslosigkeit hängt im Stück das persönliche Schicksal der Protagonisten ab.

Kimmig: Unser Selbstwertgefühl hängt bis heute stark von unserer Arbeit ab. Den Leuten gelingt es nicht, aus diesem Kreislauf auszubrechen.

ZEIT ONLINE: Woran liegt das?

Kimmig: Jahrelang wurden wir geprägt von einer neoliberalen Vorstellung davon, wie wir zu funktionieren haben. Eine Vorstellung, die vorgab, alles sei möglich, solange man selbst in Bewegung bleibt. Hier noch ein Workshop, da noch ein Seminar. Wenn man dann noch dreimal seinen Wohnsitz wechselt, ist alles wunderbar. Das Credo war: "Wer rausfällt, hat sich nicht genug bemüht."

ZEIT ONLINE: Macht die Krise dieses Credo obsolet?

Kimmig: Noch vor ein paar Wochen galt der Staat als altmodisch, ein Instrumentarium aus den achtziger Jahren, das niemanden mehr interessiert. Der Staat roch nach Ostblock und nach Mauer. Plötzlich hat sich das geändert. Alle fordern wieder einen starken Staat, allen voran Vertreter aus der Wirtschaft. Damit werden doch Parteien wie die FDP überflüssig. Die dürfte ja auch niemand mehr wählen. Wenn Herr Westerwelle konsequent wäre, müsste er sich morgen gleich selbst abschaffen und die FDP auflösen. Das wäre ein konsequenter Schritt in der Politik.

ZEIT ONLINE: Horváth schreibt, die allgemeine und private Krise seien eng miteinander verknüpft. Sehen Sie das ähnlich?

Kimmig: Das Stück zeigt anhand der Figur der Karoline sehr gut, wie schnell eine Situation umschlagen kann. Sie will sich einfach mal einen Abend auf dem Oktoberfest amüsieren, möchte loslassen, Achterbahn fahren und ein paar Bier trinken. Doch am Ende des Stücks steht sie allein da. Sie fällt in ein tiefes Loch, aus dem sie nur mit einem falschen Leben wieder rauskommt. Ein Leben mit Schürzinger, der sie lieben wird, den sie aber nicht lieben kann. Es ist ein falsches, gebrochenes Leben.

ZEIT ONLINE: Sie haben nun Wochen an dem Stück gearbeitet. In dieser Zeit haben sich die wirtschaftlichen Ereignisse geradezu überschlagen. Hat das Ihre Arbeit belastet?

Kimmig: Es war eher eine Herausforderung. Irgendwelche Rundumschläge helfen in dieser Situation schließlich wenig. Die aktuelle Situation ist auch eine, über die sich die Menschen emotional sehr schnell einigen können. Außer ein paar Bänkern und den Westerwelles wird eine große Mehrheit sie als katastrophal empfinden.

ZEIT ONLINE: Horváth hatte einen sehr politischen Auftrag mit seinem Volkstheater. Haben Sie auch einen?

Kimmig: Ja. Ich möchte einfach zeigen, dass die äußeren Umstände Löcher aufreißen, die so einfach nicht zu schließen sind. Man kann sich durchaus vorstellen, dass sich Kasimir, nachdem der Vorhang fällt, das Leben nimmt, oder dass Karoline tablettensüchtig wird.

ZEIT ONLINE: Am Hamburger Schauspielhaus lesen Hartz-IV-Empfänger die Namen von Millionären vor, der Broadway in New York verzeichnet Besucherrekord. Hat das Theater in der Krise Hochkonjunktur?

Kimmig: Insgesamt gehen rund 50 Millionen Menschen in deutschsprachige Theater. Eine wahnsinnige Zahl. Im besten Fall können hier aktuelle Fragen auf sehr demokratische Art und Weise verhandelt werden. Insofern ist das Theater dem Oktoberfest nicht unähnlich. Jeden Abend sitzen im Theater 700 völlig verschiedene Leute und beschäftigen sich mit denselben Fragen. Und schließlich orientiert man sich in seinem Verhalten immer am Verhalten anderer. So funktioniert Menschsein.

ZEIT ONLINE:
Kann es also sein, dass das Publikum gerade jetzt nach Orientierung sucht?

Kimmig: Ja. In der Politik kann man ein unfassbares Abtauchen beobachten. Man wartet seit Wochen auf ein Zugeständnis, auf ein Zeichen der Ratlosigkeit oder Offenheit. Ich würde mir wünschen, dass eine offene Diskussion geführt wird.

ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie sich konkret?

Kimmig: Antworten auf die Fragen: Was kann Politik? Was kann Wirtschaft? Darüber muss neu verhandelt werden. Wir haben schließlich noch eine andere Krise, die nebenher läuft: Die Klimakrise fällt völlig unter den Tisch. Diese Krisen böten auch die seltene Chance, neu über unseren Gesellschaftsbegriff nachzudenken. Andernfalls sehe ich die Gefahr, dass mit einfachen politischen Wahrheiten wieder große Mehrheiten zu machen sind.

ZEIT ONLINE:
Was machen Sie jetzt mit dem eigenen Geld?

Kimmig:
Man muss in Leben investieren. Sparen ergibt ja scheinbar keinen Sinn.

Stephan Kimmigs Inszenierung von "Kasimir und Karoline" ist am Hamburger Thalia-Theater zu sehen. Premiere war am 1. November.

Das Gespräch führte Martin Gantner.


bild www.flickr.com/axxolotl

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