2008/11/19

In der Piratenhochburg





























© ZEIT ONLINE 19.11.2008 - 14:04 Uhr

17 Schiffe und 340 Crewmitglieder gelten als vermisst. Völkerrecht und Europäische Union stoßen im Umgang mit Piraten an ihre Grenzen, sagt Expertin Kerstin Petretto



ZEIT ONLINE:
Frau Petretto, Sie beschäftigen sich viel mit Schiffsentführungen. Was sagen Ihnen die Entführungen in der Vergangenheit über die gegenwärtige?

Kerstin Petretto:
Solange Lösegeld gezahlt wird, verlaufen die meisten Entführungen unblutig. Ehemalige Geiseln berichten auch, dass ihre Entführer eher pfleglich mit ihnen umgegangen sind.


ZEIT ONLINE: Wie viele Leute sind derzeit in Gefangenschaft?

Petretto:
Etwa 340 Besatzungsmitglieder auf 17 Schiffen. Manche kommen nach einigen Wochen frei, andere nach wenigen Tagen. Im Fall der Sirius Star sieht es im Moment nicht so aus, als würde militärisch eingegriffen. Franzosen und Briten sind bereits hart gegen Piraten vorgegangen.

ZEIT ONLINE: Wieso also nicht auch in diesem Fall?

Petretto: Von militärischen Aktionen wird meistens abgesehen, weil es für die Entführungsopfer und wegen der Fracht viel zu gefährlich wäre. Das gilt auch für die Sirius Star. Würde die Situation eskalieren, könnte das aufgrund der Ölladung zur Katastrophe führen.

ZEIT ONLINE:
Wie verläuft eine solche Entführung für gewöhnlich?

Petretto:
Piraten nähern sich meistens nachts auf kleinen Booten. So werden sie nicht vom Radar erfasst. An Deck gelangen sie mit Enterhaken oder Leitern. Danach überwältigen sie die Crew. Die Sirius Star ist 330 Meter lang und 60 Meter breit, aber nur 25 Leute waren an Bord. Eine effektive Verteidigung ist da kaum möglich. Da liegt meines Erachtens auch eine große Verantwortung bei den Reedereien: Die Mannschaftsstärken wurden in den letzten Jahren immer weiter herabgesetzt.

ZEIT ONLINE:
Wie viele Piraten sind an so einer Entführung beteiligt?

Petretto:
Bei großen Entführungen können es bis zu 50 Piraten sein. Die Schiffe versuchen oft, durch Beschleunigung und durch Zickzackfahren zu entkommen. Doch die Piraten sind mittlerweile so gut ausgerüstet, dass dies nichts mehr nützt. Oft verfügen sie über Panzerabwehrraketen und Granaten.

ZEIT ONLINE: Welche Schiffe werden am meisten gekapert?

Petretto:
Meistens sind es Tanker und Containerschiffe, zum Teil Schiffe mit hochexplosiven Ladungen – auf ihnen ist die Besatzung aus Sicherheitsgründen nicht bewaffnet.

ZEIT ONLINE: Solche Schiffe können ja nicht vom Erdboden verschwinden. Wie geht es also weiter?

Petretto: Meistens ist klar, wo sich die Schiffe befinden. Es gibt beispielsweise einen Hafen in Eyl, in dem die meisten entführten Schiffe lagern. Das ist sozusagen die Piratenhochburg Somalias. Es kommt nur selten vor, dass Schiffe wirklich verschwinden. Es gab solche Fälle in Asien. Die Schiffe sind verschwunden und später mit neuem Namen, neuen Papieren und neuer Lackierung wieder aufgetaucht.

ZEIT ONLINE:
Von Verhaftungen ist bei Schiffsentführungen selten die Rede.

Petretto:
Die Entführer kommen in den meisten Fällen ungeschoren davon. Das hängt mit der politischen Situation in Somalia zusammen. Es gibt keine Gerichtsbarkeit und keine Strafverfolgungsbehörden, die den Kampf gegen die Piraten aufnehmen könnten.

ZEIT ONLINE: Man kann ja bereits von einem regelrechten Wirtschaftszweig sprechen. Wie lange ist das Problem schon so massiv?

Petretto:
Letztes Jahr nahmen die Entführungen bereits um zehn Prozent zu. Richtig angezogen hat es aber erst in diesem Jahr. 2008 gab es bislang allein vor Somalia 92 Attacken und 36 Entführungen.

ZEIT ONLINE:
Stößt das Völkerrecht im Umgang mit Piraten an seine Grenzen?

Petretto:
Die völkerrechtlichen Regeln sind derzeit unzureichend. Insbesondere die strafrechtliche Verfolgung ist nicht geklärt. Vor diesem Problem steht auch die Mission der Europäischen Union, die im Dezember beginnen soll und an der sich auch Deutschland mit einem Schiff beteiligen wird. Bislang ist die Regelung die, dass jeder Staat nach seinem nationalen Recht mit Piraten umgehen kann. Eine einheitliche Lösung wäre indes wünschenswert.

ZEIT ONLINE:
Mit welchen Problemen ist Somalia konfrontiert?

Petretto:
Es gibt seit 1991 keine Regierung und keine funktionierende Küstenwache. Verschiedene Gruppierungen kämpfen um die Macht. Wirtschaft und Infrastruktur liegen danieder. Und nachdem der Golf von Aden eine der wichtigsten Schifffahrtsrouten ist, hat sich dieser regelrechte Wirtschaftszweig entwickelt. Solange die Situation an Land so prekär ist, wird es schwer, der Lage auf offener See Herr zu werden.

ZEIT ONLINE:
Was ist also zu tun?

Petretto:
An Land sind vor allem die Somalis selbst gefordert. Verhandlungsprozesse, die bereits stattfinden, müssen weiterhin unterstützt werden. Problematisch ist, dass Verhandlungen durch den Kampf gegen den Terror erschwert werden. Verschiedene Gruppierungen wie die Al Shabab werden von Gesprächen ausgeschlossen, weil sie des Terrorismus verdächtigt werden. Ohne sie wird es aber noch schwerer, eine Lösung zu finden.

ZEIT ONLINE:
Ist der Golf von Aden alternativenlos?

Petretto:
Man kann auch das Kap bei Südafrika umfahren, aber die Strecke ist etwa doppelt so lang. Das heißt: Die Kosten würden steigen, wohl auch für die Verbraucher. Ich fürchte, dass dieses Problem kurz- und mittelfristig nicht zu lösen ist. Geschützte Konvoifahrten können Abhilfe schaffen. Die müssen dann aber wirklich massiv geschützt sein.

Fragen Martin Gantner


foto auf www.flickr.com/unaone

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